Der Tag, an dem meine Mutter starb.


Mein Grossvater ist gestorben, als ich sechs war. Ich kann mich daran erinnern, dass er zuhause im Bett lag und sehr krank war und meine Patentante mit mir ins Zimmer ging, damit ich mich von ihm verabschieden sollte. Ich wollte nicht, auch daran erinnere ich mich, musste aber.
Das war der Vater meines Vaters. Der andere Grossvater ist vor meiner Geburt gestorben. Ich glaube, er war so um die 50 und hatte einen Herzinfarkt. Das war ein paar Tage vor der geplanten Hochzeit meiner Eltern und so kam es, dass an diesem Tag statt eine Hochzeit eine Beerdigung stattfand.
Meine Grossmütter wurden beide sehr alt und obwohl ich sie sehr geliebt habe und natürlich traurig war, war ihr Tod irgendwie okay für mich. Das klingt jetzt bestimmt falsch. Ich will damit sagen, dass wenn jemand über 90 ist, der Tod halt nicht mehr so unerwartet und plötzlich kommt wie dann, wenn jemand jünger ist. Wir kennen die Lebenserwartung des Menschen in ungefähr und müssen damit leben, dass keiner 150 oder 200 wird. Traurig ist das natürlich trotzdem, man versteht es aber vielleicht einfach besser.
In vielen meiner Kindheitserinnerungen kommen meine Grossmütter vor, besonders die eine, und ich denke auch Jahre nach ihrem Tod noch viel an sie. Nicht mehr so vermissend, aber liebevoll und dankbar. Das sind einfach super Erinnerungen.

Eine ganz andere Erfahrung machte ich mit dem Tod, als er sich meine Mama holte. Sie war seit etwa einem Jahr krebsfrei. Ich glaube, wir gewöhnten uns langsam daran, uns keine Sorgen mehr zu machen und entspannter zu sein, als sie starke Rückenschmerzen unbekannter Herkunft bekam. Die gingen nicht mehr weg. Als es immer schlimmer wurde, half ich ihr viel im Haushalt, nahm ihr Arbeiten wie z.B. das Einkaufen und die Wäsche ab.
Ich glaube, ich hatte damals das Thema Krebs total ausgeblendet, was mir jetzt sehr schräg vorkommt. Es war doch irgendwie offensichtlich, dass er zurück war… Aber ich wusste es nicht oder wollte es nicht wissen. Oder vielleicht erinnere ich mich total falsch an all das, ich weiss es nicht. Leider kann ich niemanden mehr fragen, der das wüsste.
Irgendwann musste sie dann ins Krankenhaus, war etwa zwei Wochen dort und verliess es nicht mehr lebend. So schnell ging das. Dort erfuhr ich, dass sie wieder Krebs hat und zwar jetzt einfach überall, es war zu spät für alles. Es war ein Schock. Und alles ging viel zu schnell.

Die letzten drei Tage lag sie auf der Intensivstation. Am Abend bevor sie starb waren mein Vater, mein Bruder und ich noch bei ihr. Sie stand unter Morphium und war aber noch bei Bewusstsein. Sie sagte, dass sie noch nicht sterben will.
Am nächsten Morgen hätte ich eigentlich Schule gehabt. Ich hatte dieses komische, unruhige und ungute Gefühl schon beim Aufwachen, diese Vorahnung… und statt in die Schule fuhr ich früh morgens schon ins Krankenhaus. Dort wurde ich von einer Ärztin empfangen und in ein Zimmer geführt, wo sie mir erklärte, dass sich der Zustand meiner Mutter sehr verschlechtert habe und ich nun entscheiden müsse, ob man sie künstlich beatmen soll oder nicht. Sie empfahl es nicht, denn eine Chance aufs gesund werden gäbe es nicht und der Beatmungsschlauch könnte zusätzliche Infektionen hervor rufen.

Aber gestern Abend hat meine Mama ja noch gesagt, sie wolle nicht sterben….

Ich wollte zu ihr.
Sie war noch bei Bewusstsein, konnte aber nicht mehr sprechen. Ich fragte sie, ob die Ärzte es ihr erklärt hätten und sie nickte. Und dann fragte ich sie, ob sie einverstanden sei und sie nickte wieder…. Ich bin auch nach 22 Jahren noch wahnsinnig dankbar dafür, dass sie noch zustimmen konnte.
Ich rief meinen Vater an, der bei der Arbeit war und gleich los fuhr. Und dann fuhr ich nach Hause zu meinem Bruder, um ihm alles zu erklären und ihn abzuholen. Er hatte drei Jahre zuvor einen ganz schlimmen Motorradunfall mit bleibenden Schäden erlitten und war zu dieser Zeit noch in Rehabilitation.
Als wir im Krankenhaus ankamen, war meine Mutter nicht mehr bei Bewusstsein.

Ich hatte mal gelesen, dass Menschen manchmal ganz lange nicht sterben bzw. loslassen können, weil sie denken, es ginge nicht ohne sie. Meine Mutter hat wahnsinnig gelitten, als mein Bruder den Unfall hatte und an den Folgen fast gestorben war. Es war eine unerträglich schlimme Zeit für die ganze Familie und ganz besonders für meine Mutter.
Er hatte sich unterdessen einigermassen erholt, war aber noch in Rehabilitation. Viele Therapien usw. Und sie begleitete und unterstützte ihn bei allem, denn er konnte alleine nirgends hin und war noch sehr eingeschränkt in seinen Bewegungen und auch sonst. Ich wusste, dass sie sich grosse Sorgen um ihn machte.
Ich fragte meinen Bruder, ob ich ein paar Minuten allein mit ihr sein dürfe und sagte ihr in dieser Zeit, dass Papa und ich auf meinen Bruder aufpassen werden, dass sie sich keine Sorgen machen solle und dass sie gehen darf.
Danach dauerte es nur noch ein paar Minuten bis das Gerät, an dem sie hing, anfing zu piepen und den Herzstillstand anzeigte.
So tapfer wie das alles klingen mag, ich war nicht tapfer. Nur vernünftig und ich wollte sie nicht mehr leiden sehen, ich hielt das nicht aus. Ich wollte nicht, dass sie stirbt. Ich wollte, dass alles wieder gut wird, dass sie gesund wird und alles einfach vorbei ist. Aber ich wusste, das wird nicht geschehen, also sollte sie loslassen und in Frieden sterben können.

Mein Vater kam erst kurz nach ihrem Tod an und das war gut so. Ich glaube, meine Mutter hat gewusst, dass er das nur schlecht hätte ertragen können.

Nun war sie also tot, meine Mutter. Viel zu früh.
Irgendwie war das immer mein Alptraum und etwas, was ich mir nie vorstellen konnte. Ein Elternteil zu verlieren. Ich wurde mit dieser Situation relativ früh in meinem Leben konfrontiert und ich muss sagen, ich war nicht bereit dafür. Es hat wirklich sehr lange gedauert, bis ich da einigermassen drüber hinweg gekommen bin.

Ostern 1995 war der Unfall meines Bruders und im September 1998 ist meine Mutter gestorben. Mich hat das beides durchgeschüttelt und ich glaube, ich hatte nach dem ersten Ereignis gar nicht genug Zeit, wieder richtig Boden unter den Füssen zu bekommen, als er mir erneut weg gezogen wurde. Ich wusste es damals nicht, aber jetzt denke ich, dass ich traumatisiert war. Ich hatte Angstzustände. Verlustängste. ich erinnere mich gut daran, wie ich jedesmal Panik hatte, wenn ich die Sirene der Ambulanz durchfahren hörte. Diese Angst, es sei meinem Bruder oder meinem Vater etwas passiert und die ging erst weg, wenn ich anrief und fragte, ob alles okay ist. Natürlich war immer alles okay, nur ich nicht, ich war gestört. (Mit der Zeit ging das dann aber wieder weg, unterdessen bin ich wieder ziemlich normal.) Ich hatte auch jahrelang Schuldgefühle, weil ich sie damals nicht aufgefordert habe, zu kämpfen, zu überleben und nicht aufzugeben… Sehr, sehr lange. Unterdessen nicht mehr. Es war alles richtig, so wie es war.
Mein Bruder konnte damit viel besser umgehen als mein Vater und ich, ich glaube, das hat mit seiner Hirnverletzung zu tun. Papa hat nicht viel darüber geredet, aber ich weiss, dass er es schwierig fand.

Neun Jahre später starb er ja dann auch an Krebs. Von dieser Begegnung mit dem Tod erzähle ich ein anderes Mal, es ist genug für heute. Als ich kurz nach seinem Tod die Wohnung räumte, waren all die Anziehsachen usw. von meiner Mama immer noch im Kleiderschrank und das tat mir damals so Leid. Ich glaube, er fand das alles viel schwieriger als ich wusste und ich hätte mehr für ihn da sein sollen, habe es aber nicht gemerkt und nicht gekonnt zu dieser Zeit.

Das alles ist 22 Jahre her und mir geht es sehr gut. Ich vermisse meine Mutter an manchen Tagen oder in manchen Situation noch, aber nicht mehr so oft und nicht mehr so schmerzlich wie am Anfang. Aber seit ich selber Mutter bin und halt seitdem ich alleinerziehend bin. Ich hätte es meinem Kind so gegönnt, Grosseltern zu haben und meinen Eltern, mein Kind zu kennen, weil es so ein tolles ist.
Aber im grossen und ganzen habe ich mich längst daran gewöhnt, dass sie nicht mehr da sind. Ich muss ehrlich gestehen, dass die Erinnerungen an meine Mutter langsam verblassen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie sie jetzt wäre, 22 Jahre älter…

Und so heilt die Zeit vielleicht doch ein wenig die Wunden, wenn wir sie nur lassen…







6 Antworten zu „Der Tag, an dem meine Mutter starb.”.

  1. […] habe meiner Mutter auf den Totenbett etwas versprochen. Der Tag, an dem meine Mutter starb.Etwas, was wirklich wichtig war. Ihr, das weiss ich ganz genau, hat es geholfen, dieses Leben […]

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  2. […] ist. Ich habe das jedenfalls so erlebt. Ich war ja noch ziemlich jung, als meine Mutter starb ( Der Tag, an dem meine Mutter starb. ) und ich hatte danach noch für eine lange Zeit das Gefühl, ich hätte sie noch gebraucht. Ich […]

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  3. So etwas Tiefes habe ich schon lange nicht mehr gelesen….

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  4. Danke Sonja… liebe Grüsse 🌻

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  5. Handreich…………
    So gut in Worte gefasst….
    Gruß von Sonja

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