2120


Wir schreiben das Jahr 2120.

Ich bin eine alleinerziehende Mutter. Das ist nichts aussergewöhnliches, Eltern bzw Elternteile sind mehrheitlich alleinerziehend. Ich weiss, dass das vor hundert und mehr Jahren noch anders war. Damals waren Alleinerziehende noch eher eine Minderheit. Das hat sich verändert.

Ich kann nur Teilzeit arbeiten, weil mir die Erziehung,  die Betreuung und die Zeit mit meinem Kind sehr wichtig sind. Ich bekomme für die Arbeit, die ich damit für die Gesellschaft leiste, einen finanziellen Ausgleich. Aus gut erzogenen Kindern werden Erwachsene, die gut auf ihren eigenen Füssen stehen und zurecht kommen. Der Vater des Kindes macht es genau so. Das Kind verbringt drei Tage pro Woche bei ihm und auch er bekommt für diese Zeit einen finanziellen Ausgleich, damit er zuhause bleiben und sich die notwendige Zeit nehmen kann. In den Firmen ist es normal, dass fast alle Teilzeit arbeiten. Es ist sogar sehr erwünscht, da man damit die psychische Gesundheit zum einen der Angestellten und zum andern der Kinder fördern kann. Es gibt nur noch wenige Menschen, die an Depressionen leiden und die Krankheit Burnout, die vor hundert Jahren sehr verbreitet war, ist sogar ganz verschwunden.

Es ist Dienstagmorgen. Mein Kind sitzt in seinem Zimmer und hat Schule. Es ist mit dem Lehrer und der ganzen Klasse vernetzt. Jedes Kind stellt seinen Stundenplan mit Hilfe des Lehrers und der Eltern selbst zusammen. Individuell nach Interessen und Fähigkeiten.
Es wird sehr grossen Wert auf die psychische Entwicklung und auch das seelische Wohl gelegt. Ethik steht über jedem andern Fach. Kinder sollen in ihrer Eigenartigkeit gefördert werden, sie sollen zu starken, selbstbewussten und empathischen Personen hinwachsen.
Massgebend für die beruflichen und privaten Ziele ist der EQ, der Emotionale Intelligenzquotient. Vom allgegenwärtigen IQ und dem damit verbundenen Druck ist man schon vor langer Zeit weg gekommen. Grund dafür war vor allem die Einsicht, dass diese Prioritätensetzung die Menschen und damit auch die Gesellschaft krank gemacht hat.
In den höchsten Rängen der Gesellschaft, in Führungspositionen, befinden sich Frauen und Männer mit hohem EQ. Empathie, Führungsqualitäten und Sorgfalt werden neben einem aussergewöhnlichen guten Fachwissen natürlich, gross geschrieben.

Apropos Frauen und Männer… Auf das Geschlecht eines Menschen wird nicht mehr so viel Wert gelegt wie noch vor ein paar Jahrzehnten. Es gibt Menschen, die sind ganz klar männlich oder ganz klar weiblich. Es gibt aber auch andere sogenannte Geschlechter, die jedoch nicht besonders auffallen oder eine andere Rolle in der Gesellschaft einnehmen. Dies gilt auch für die sexuelle Vorliebe von Menschen. Nachdem diese Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte lang sehr viel Gewicht einnahmen und auch für Verurteilungen führten, kümmert sich heute niemand mehr darum. Man ist der Meinung, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen die andern nichts angeht und so wird das auch gelebt. Gleichgeschlechtliche Paare sind heterosexuellen Paaren gleichgestellt. Es ist für mich eine unverständliche Vorstellung, dass das mal nicht so war.
*dies gilt natürlich nicht für illegale Vorlieben. Dazu möchte ich sagen, dass uns die Gewaltverbrechen sexueller Art der Vergangenheit zB an Kindern bekannt ist. Diese sind sozusagen auf null gesunken, dank einer neuartigen Therapieform – einer Mischung aus Psychotherapie, Hypnosetherapie und dem Medikament PädExomin -, dessen sich pädophile Menschen mit Erfolg unterziehen.

Vielleicht hast du davon gehört, dass ein schlimmer Virus vor hundert Jahren so einiges verändert hat in unserer Gesellschaft. Vor allem das gesellschaftliche und zwischenmenschliche Leben. Wir wissen nur noch aus überlieferten Berichten und von Bildern, wie das Leben damals war und finden alles sehr befremdlich. Kaum vorstellbar ist uns die grosse Distanzlosigkeit, mit der die Menschen damals zusammengelebt haben. Körperkontakt haben wir nur zu sehr nahestehenden Menschen, also vor allem in der Familie. Zu andern Menschen finden diese nie statt. Es gilt als sehr unfreundlich und respektlos andern gegenüber,  wenn man sich körperlich zu sehr nähert oder jemanden sogar berührt. Grössere Menschenansammlungen finden schon lange nicht mehr statt, es ist einfach zu gefährlich. Menschen arbeiten wenn möglich von zuhause aus oder in kleineren Gruppen. So auch in den Schulen zB. Kinder werden zum grössten Teil per Fernunterricht ausgebildet und halten sich nur wenige Stunden pro Woche in den Schulgebäuden auf. Es ist wichtig, dass sie den Umgang mit andern Menschen lernen und dafür ist dann doch die Schule ein gutes Übungsfeld.

Viele Menschen gehen nie ohne Gesichtsmaske aus dem Haus, sie zu tragen ist jedoch freiwillig. Masken sind unterdessen zu einem stylischen Statement geworden, es gibt sie in allen Farben und Mustern und es gibt viele Menschen, die sich ohne sehr nackt fühlen. Dazu möchte ich sagen, dass unter dieser Entwicklung die Kosmetikindustrie gelitten hat. Kosmetikartikel wie Lippenstift werden nur noch spärlich verkauft.

Der Virus, von dem ich oben gesprochen habe, hiess Covid-19. Er hat damals die ganze Welt aus den Rudern laufen lassen und dies hat sich nie mehr wieder ganz eingependelt. Die Menschheit hat versucht, zur Normalität zurück zu kehren, der Virus hat sie aber immer wieder zum Reagieren gezwungen. Er konnte trotz Impfungen und Medikamenten nicht ausgerottet werden, denn er veränderte sich stetig und griff immer wieder an. Jährlich starben und sterben viele tausend Menschen wegen ihm und wir haben gelernt, damit zu leben. Unterdessen sind wir bei Covid-120 angelangt.

Das alles ging nicht spurlos an uns vorbei, wie du aus meinem Bericht entnehmen kannst. Wir finden es nicht (mehr) schlimm, ich glaube es ist, wie man damals Krebstote oder Suizidtote hatte. Diese haben wir übrigens nicht mehr. Krebs ist unterdessen gut heilbar und Suizide gibt es kaum noch aus oben genannten Gründen (psychische Gesundheit). Die Mehrheit der Todesfälle sind aufgrund von Covid, aber auch Verkehrstote haben wir sehr viele.
Das mit dem Krebs war ja damals übrigens eine brisante Geschichte. Irgendwann während oder nach der ganzen Covid-19-Sache ist ausgekommen, dass wirksame Krebsmedikamente längst entwickelt worden sind, dass aber die Pharmaindustrie diese im Versteckten hielt. Aus Gründen des Profits. Diese Enthüllung war wahnsinnig. Die damals die Welt beherrschenden Pharmaunternehmen gibt es unterdessen nicht mehr.

Ich denke, wenn jemand aus dem Jahr 2020 dies alles nun lesen würde, klänge dieser Bericht für ihn schlimm und auch recht anti-sozial wegen der Distanz usw. Aber das ist es nicht, im Gegenteil. Togetherness wird grösser geschrieben als je zuvor. Es gibt immer wieder Phasen der Quarantäne oder der Isolation, Lockdowns finden in regelmässigen Abständen statt, also immer wenn wieder ein neuer Virus auf uns einbricht.
In dieser Zeit ist es unumgänglich, einander zu helfen, füreinander da zu sein. Nachbarn, Bekannte und Freunde oder Familien. Und dieses Zusammen-schaffen-wir-es-Gefühl zieht sich durch alles durch, nicht nur in Krisenzeiten. Ich finde das sehr schön.

Probleme des 20. Jahrhunderts wie z.B. Armut oder auch Hungersnot gibt es nicht mehr. Es gibt Teile der Erde, die unterdessen unbewohnt sind, z.B. grosse Teile des Kontinents Afrika.
Die Erde kann sich in Zeiten des Lockdowns immer wieder von den Strapazen, die wir ihr zusetzen, erholen. Wir sind aber auch sorgfältiger geworden, wir produzieren weniger Abfall und zB Plastik, wie es ihn damals gab, kennen wir gar nicht mehr.

 

 

 

 

 

 

 

7 Antworten zu „2120”.

  1. 🎵🎶🎵🎶🎵🐦

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  2. Wer weiß, wer weiß. Auf alle Fälle kannst du super Geschichten erzählen! 😀

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  3. Vielleicht ist es das gar nicht. Nur anders.

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  4. Hört sich für mich traurig an.

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  5. Sehr kluges und durchdachtes Gedankenexperiment, echt klasse!
    Herzliche Grüße vom Lu

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