Die unbekannten Besucher…


Stell dir vor, dir wird gesagt, dass dich jetzt dann jemand besucht und du freust dich. Und dann kommen sie. Fünf Menschen, die dich begrüssen, als würden sie dich sehr gut kennen. Und es ist ihnen anzusehen, dass sie sich freuen, dich endlich wieder zu sehen. Es sind zwei erwachsene Männer, eine Frau und zwei Kinder. Eins ist noch ganz klein und das andere schon fast ein Teenager. Mädchen. Das grössere Mädchen nennt dich „Grandma“ und du schaust diese Menschen fragend an. Wer ist das? Ist das wirklich dein Besuch? Du hast diese Menschen noch nie in deinem Leben gesehen.

Der eine nennt dich „Mum“, aber du hast das Gefühl, er sei dein Bruder James. Aber er sagt, er sei dein Sohn Rob. Und dann stellt er dir die andern vor. Er sagt, dies seien seine Frau und sein kleines Kind. Und der andere Mann sei dein ältester Sohn Paul und seine Tochter, die länger nicht da waren, weil sie im Ausland leben.
Du schaust in die Runde und immer noch denkst du, nur James zu kennen und du bist froh, dass er da ist. Aber er sagt immer wieder, er sei nicht James, sondern dein Sohn. Du kannst dir nicht vorstellen, dass du Kinder hast, du bist ja selber noch eins. Du erzählst von deiner Mutter und bedauerst es, dass sie so jung gestorben ist und die Enkel und Urenkelinnen nicht mehr kennen lernen durfte. Der, von dem du denkst, er sei James, sagt, „dann hätte deine Mutter aber sehr alt werden müssen, denn du bist ja auch schon 84“. Du hast eigentlich keine Ahnung, wovon er spricht. Du schaust dich um und fragst, wo Dad ist. Aber er kommt nicht und er ist nirgends zu sehen.

Das grössere Mädchen sagt nicht viel. Es scheint traurig zu sein, denn es hat Tränen in den Augen. Du weisst nicht, warum.
Die beiden Männer zeigen dir Fotos. „Von früher“, wie sie sagen. Darauf ist immer wieder eine junge Frau zu sehen und sie sagen, das seist du und die kleinen Jungs seien sie. Es verwirrt dich. Der Mann neben ihr auf den Fotos kommt dir aber bekannt vor. Es ist dein Mann. Und plötzlich erinnerst du dich. Dein Mann ist vor drei Jahren verstorben und plötzlich vermisst du ihn wieder so sehr. Du fühlst Trauer, tiefe Trauer. Und du merkst, dass etwas mit dir nicht stimmt. Dass du dich an Dinge nicht erinnerst, an die du dich erinnern solltest.
Du sagst, du wünschtest, er hätte dich mit ins Grab genommen… Alle sind still. Einer der Männer sagt „Mum…“… Du schaust ihn an und fragst, wer er sei. Er erklärt dir, er sei dein Sohn, aber das ist komisch, denn du kannst dich nicht erinnern, einen Sohn zu haben. Auch seine Kinderfotos kommen dir nicht bekannt vor.
Du fragst, wer die zwei Mädchen seien und dir wird erklärt, es seien deine zwei Enkelinnen. Das Kleine kann noch nicht sprechen, aber das Grössere gibt dir eine Zeichnung, die es gemalt hat für dich. Es sagt, auf dem Bild seien seine Meerschweinchen, die Mama und der Papa. Die Mama sei zuhause geblieben, weil Mama und Papa getrennt wären. Du schaust sie an und fragst sie, wer sie ist. Sie nennt dir ihren Namen und du weisst nicht, wer das ist. Und auch die Männer nicht. Du fragst James, warum er dich so lange nicht besucht habe. James sagt, er sei nicht James, sondern dein Sohn. Du schaust ihn ungläubig an.

Als der Besuch zu Ende war, haben sie dich zurück in dein Zimmer begleitet. Dort hängen viele Fotos von den beiden Mädchen und auch von den beiden Männern, von dir und deinem verstorbenen Mann. Und trotzdem kannst du dich beim besten Willen nicht an sie erinnern.

Du bist traurig, wenn sie sich verabschieden und gehen, gehst hinter ihnen her, so dass das Betreuungspersonal dich aufhalten muss.
Die Besucher sind auch traurig, man sieht es ihnen an. Du weisst nicht, warum…

Du bist dement.

10 Antworten zu „Die unbekannten Besucher…”.

  1. Dann ist sie so alt, wie die meisten Kinder, mit denen ich arbeite (die sind zwischen 10 und 12) – für mich ein Alter, in dem Kinder besonders viel, besonders bewusst aufnehmen, zu hinterfragen beginnen, interessante Fragen haben, wissbegierig sind, aber auch nach Orientierung und Halt suchen und beides sehr brauchen.

    Es ist sehr empathisch, dass Du sie auf den Besuch vorbereitet hast, aber auch toll, wie sie, wie ihr ganz offensichtlich diesen Besuch dann reflektiert hat/habt.

    Alles Liebe für Dich, für sie!

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  2. Sie ist fast 12. Ich war beim Besuch nicht dabei, weil wir getrennt sind. Sie war mit ihrem Vater in seinem Heimatland im Urlaub. Ich habe sie im Voraus aber sehr gut darauf vorbereitet und sie wusste, wie das ablaufen könnte. Obwohl die Grandma sie nicht erkannt hat und sehr verwirrt war, ist der Besuch dennoch eigentlich ganz gut gegangen. Es hätte ja auch sein können, dass Grandma sehr verwirrt und wütend und ausfällig oder sehr traurig wird. Das war nicht der Fall.

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  3. Dass da ein realer Hintergrund ist, habe ich geahnt (befürchtet). Wie Deine kleine Tochter (darf ich fragen, wie alt sie ist?) das wohl verarbeitet hat … – In jedem Fall hast Du Deine /Eure Erfahrung mit dem Text auf eine ebenso sensible wie besondere Weise materiell werden lassen. Er sollte von vielen Menschen gelesen werden können …

    Nochmals liebe Grüße!

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  4. Das ist ein wahrer Text. Meine kleine Tochter hat seit langem ihre Oma im Ausland besucht und mir erzählt, wie das war. Und so ist dann dieser Text erstanden.
    Danke fürs lesen und für deine liebe Rückmeldung.

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  5. Das ist ein unglaublicher Text, seine Idee, sein Inhalt, seine Umsetzung – alles von Dir ersonnen und verwirklicht. Ich bin wirklich zutiefst beeindruckt und bewegt. Du hast wahrlich eine feine Seele, was ich auch an Deinen Bildern erkenne, ihren Motiven, der Art, wie Du zeichnest.

    Liebe Grüße an Dich! Ich wünsche mir einen schönen Sonntag für Dich. 💚🌞🌼

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  6. Das wünsche ich dir auch, vielen Dank!

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  7. Ja, bei uns auch. Ist nicht einfach… Viel Kraft und Geduld und alles Liebe.

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  8. Vertrautes Thema, jetzt gerade.

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  9. Sehr bewegend! An diese Perspektive habe ich noch nie wirklich gedacht. Danke! Regine

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  10. Und jetzt hab ich da was im Auge….

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