
Ich persönlich glaube ja, dass man gewisse Ereignisse spürt, bevor sie da sind. Solche, die einen emotional bis aufs Äusserste fordern werden. Solche, die uns an den Abgrund und darüber hinaus führen und uns dann allein fallen lassen werden.
Wisst ihr, was ich meine? Diese Vorahnung, diese Befürchtung, die dann auch tatsächlich eintreffen wird. Eine ganz eigenartige Gewissheit und das untrügliche Gefühl im Bauch. Besonders stark ist es – zumindest bei mir – bei Vorahnungen unschöner Art. Und dann ist dieses Gefühl ja besonders schwer zu unterscheiden von einer Vor-Angst, also vor einer Befürchtung die man einfach hat, die aber möglicherweise nie eintreffen wird. Dazu neige ich leider auch, kann aber damit unterdessen recht gut umgehen bzw. mich wieder aus diesen Gedanken raus holen. Es reicht ja dann, wenn man darüber nachdenkt, falls es eintrifft.
We will cross that bridge, when we come to it.
Einer der wichtigsten Sätze im Leben, wie ich finde, denn was bringt es, sich wahnsinnig zu machen im Voraus wegen etwas, was nie oder ganz anders eintreffen wird? Und auch falls es genau so kommen sollte, haben tausend Sorgen im Voraus es auch nicht besser gemacht, sondern höchstens mich selbst müde gemacht.
Ich habe mir jetzt gerade überlegt, warum ich das Gefühl habe, vor allem schlimme Dinge zu spüren. Ich glaube, auch freudige Ereignisse spürt man im Voraus oder genau dann, wenn sie passieren, genau so wie schlimmere. Die Schlimmen lösen in uns aber andere, stärkere und schwerer ertragbare Symptome aus, deswegen fallen sie uns stärker auf. Vorfreude-Gefühle sind schon etwas ganz anderes, viel schöner, als dieses flaue Angst-Gefühl im Bauch. Wir neigen dazu, schöne Ereignisse sowie halt auch schöne Gefühle vielleicht eher als gegeben und normal (nicht) zu beachten als die andern, zumal diese uns manchmal schlaflose Nächte, Unruhe oder was auch immer bereiten.
Ich denke, wir alle könnten uns ganz gut auf unser Gefühl verlassen, wenn wir das denn tun würden. Die Kunst ist es meiner Meinung nach, Bauch und Gefühl so zu koordinieren, dass sie eine Einheit bilden. Und diese beiden Werte zusammen bilden dann wohl unseren gesunden Menschenverstand, von dem man momentan so viel hört und liest. Er vereint beides – Kopf und Bauch – Gehirn und Gefühl. Nur zusammen funktioniert das und ist vollkommen, davon bin ich überzeugt. Ich glaube auch nicht, dass es reine Bauch- oder reine Kopfmenschen gibt, denn wir als Menschen verfügen über beide diese Kräfte und vereinen sie ganz unbewusst. Das muss auch so sein, denn ohne das eine sind wir unvollständig und einseitig.
Ich erlebe es eigentlich immer mal wieder, dass irgendwelche Dinge so eintreffen wie ich es „erwarte“ oder denke, dass es so eintreffen wird. Sehr extrem habe ich das beim Tod meiner Eltern erlebt. Bei beiden. Meine Mutter war nach einem kurzen Krankenhaus-Aufenthalt auf der Intensivstation, total und überall verkrebst. Irgendwie ging alles sehr schnell, eigentlich zu schnell für mich. Jedenfalls hat sie am Abend bevor sie gestorben ist noch gesagt, sie wolle noch nicht sterben und wir haben vielleicht auch deshalb überhaupt nicht damit gerechnet. Ich habe sowieso nicht damit gerechnet. Ich habe gehofft und nichts verstanden, glaube ich im nachhinein. Jedenfalls hatte ich am nächsten Tag Schule, es war ein Donnerstag. Ich war am Morgen extrem nervös und aufgewühlt. Ich hatte dieses Scheiss-Gefühl. Und schlussendlich habe ich ganz genau gewusst, dass meine Mutter heute stirbt und dass ich sofort hinfahren muss. Ich weiss, dass ich das nicht wirklich wahrhaben wollte und ich habe mir eingeredet, dass ich mich hinein steigere und mir zuviele Sorgen mache. Aber ich habe es trotzdem gewusst. Und bin statt in die Schule ins Krankenhaus gefahren, schon früh am Morgen. Dort wurde ich in Empfang genommen und man klärte mich darüber auf, dass meine Mutter am Sterben ist. Es ging darum, über verlängernde Massnahmen zu entscheiden. Vor 23 Jahren hat man noch nicht so über solche Dinge gesprochen oder Patientenverfügungen geschrieben. Und weil bei uns alles innerhalb von zwei, drei Wochen passiert ist, war das sowieso nie ein Thema. Um ehrlich zu sein, wollten wir – oder zumindest ich – einfach hoffen und nicht über so etwas sprechen. Ich habe es ja bis genau zu diesem Moment nicht geschnallt, wie ernst es ist.
Nun war ich also da. Allein. Ich muss hier ja nicht alles ausführlich erzählen. Jedenfalls habe ich entschieden und meine Mutter ist etwa zwei Stunden später gestorben.
Und ich habe das gespürt vorher, ganz ehrlich.
Bei meinem Vater war es ähnlich. Er hatte Speiseröhrenkrebs, es war wirklich ernst und es ging ihm nicht gut. Sein Allgemeinzustand war so schlecht, weil er ja seit Monaten nicht mehr wirklich essen konnte. Er hat viel zu lange gewartet damit, einen Arzt aufzusuchen. Der Tumor verschloss die Speiseröhre fast vollständig, da konnte also nur noch Flüssiges durch. Er war sehr dünn und auch schwach. In diesem Zustand setzten ihm Chemo und Bestrahlung besonders zu, es war schlimm mitanzusehen. Und doch bestand Hoffnung, denn die Therapien haben gewirkt, der Tumor ist kleiner geworden. Anfangs November hatte mein Vater eine Therapie-Pause, wenn ich mich richtig erinnere von zwei Wochen. Ihm ging es in dieser Zeit wirklich besser. Er hatte wieder ein bisschen mehr Energie und fühlte sich einfach besser. Mit seinem Tod habe ich in dieser Zeit also wirklich überhaupt nicht gerechnet, im Gegenteil. Ich habe mich so gefreut und recht viel neue Hoffnung geschöpft.
Aber es war da genau dasselbe wie neun Jahre zuvor. Ich bin am Morgen des 13. Novembers aufgewacht und war wahnsinnig nervös. Wieder dieses unsagbar schlimme Gefühl. Es war ein Dienstag. Eine Freundin kam am Morgen zum Kaffee und ich weiss, dass ich sie fast rausgeworfen habe, weil ich irgendwie wie angetrieben und ruhelos war. Ich habe dann „zuhause“ (mein Elternhaus) angerufen und mein Bruder ging ran. Ich habe gefragt, ob alles okay ist und er hat geantwortet, dass Papa noch schläft. Dann läuteten bei mir alle Alarmglocken, denn es war 9 Uhr und er war normal immer sehr früh wach, weil die Schmerzen ihn nicht mehr schlafen liessen. Ich bin sozusagen dorthin geflogen! Er war dann tatsächlich im Bett, sah wächsern aus und seine Haut war kalt und komisch zum Anfassen. Er hat nicht reagiert. Er war tot.
Und ich habe es vorher gespürt.
Ich glaube nicht, dass das Zufälle waren. Ich glaube auch nicht, dass ich in die Zukunft sehen kann oder was auch immer. Aber ich glaube, dass es dabei um die Kraft der Gedanken geht. Und um die Verbindung, die man zu jemandem hat. Das unsichtbare Band, das uns mit einem anderen Menschen verbindet, wenn das ganz stark ist, dass ist so etwas möglich, daran glaube ich wirklich. Wenn dann so jemandem etwas passiert, dann kann man das fühlen, wenn man es zulässt. Vielleicht, weil sie in diesem Moment auch an uns denken oder warum auch immer, ich weiss es nicht.
Mich würde es mal interessieren, ob andere Menschen das auch erleben. Ob es alltäglich ist oder selten. Schön ist es jedenfalls nicht, sondern ich habe es als belastend erlebt und gleichzeitig aber auch als Bestätigung eben dieses Bandes, das uns verbunden hat und es vielleicht immer noch tut und dann ist das auch irgendwie wieder schön.
Wie so oft ist es so, dass etwas schön und gleichzeitig schlimm ist. Es kommt immer drauf an, welche Seite davon man betrachtet. Vermutlich oder ganz sicher es es aber hilfreicher, sich nicht so sehr auf das Negative zu versteifen (was nicht bedeutet, dass man es nicht auch sieht und sich damit auseinander setzt, sondern einfach nicht darin stecken bleibt wie in einem Sumpf), sondern das Blatt mal zu wenden und zu schauen, was da noch steht.
Kommentar verfassen