
Was auch immer die Welt bewegt, fesselt oder sie in Atem hält, es vermag nie, das Leben zu stoppen. Auch, wenn es uns manchmal so vorkommt. Egal was passiert, das Leben geht immer weiter.
Was bei uns bzw. in unserem Land bzw. in der Welt im Moment abgeht, erscheint uns wie ein grosses Drama. Unfassbar und unvorhersehbar, was passiert und noch passieren wird. Aber eigentlich es ist nicht das Grosse, was uns wirklich beschäftigt. Das ist es nie. Es mag uns zu erschüttern, zu erschrecken oder gar schockieren, aber es hält nie an. Es geht vorbei, sobald etwas Neues unsere Aufmerksamkeit erhascht. Es ist das Kleine, das uns nachhaltig erschüttert. Dinge, die in unserem kleinen Kreis passieren oder auch in andern.
Die kleinen Schicksale. Das sind die Geschichten, die das Leben schreibt und jede davon könnte auch ebenso gut unsere sein, vielleicht berühren sie uns aus diesem Grund manchmal so sehr.
Solche Einzelschicksale werden momentan ganz bestimmt durch die Pandemie und alles was sie wie ein Rattenschwanz hinter sich herzieht, begünstigt.
Aber nicht nur. Die Pandemie hat sich zwar über uns alle gestülpt wie ein grosser Umhang. Nicht warm oder schützend, sondern einfach nur schwer. Aber wie ich bereits im letzten Text geschrieben habe, was war, das ist noch immer. ( Es ist genau wie vorher, nur schlimmer )
Die Pandemie ist das eine und die nimmt ihren Lauf. Alles andere läuft trotzdem weiter. Das Leben hat nicht aufgehört, seine Geschichten zu schreiben, seine Wege zu kreieren, seien es gute oder schlechte.
Ich erzähle euch eine Geschichte, die mir nahe geht im Moment und sie hat nicht im geringsten etwas mit Corona zu tun:
Ich glaube, sie ist etwa Mitte 80 und ihr Mann schon über 90. Die beiden sind länger verheiratet als ich überhaupt lebe und ich kenne sie seit immer. Gerade in den Jahren, die für mich nicht so leicht waren, war sie mir eine grosse Stütze. Obwohl sie nicht gleich um die Ecke wohnt und wir uns sehr selten sehen, stand und steht sie mir immer besonders nah. Sie hatte immer ein offenes Ohr, ich konnte erzählen, weinen, wütend sein, was immer grad nötig war. Und sie hat irgendwie immer genau das Richtige getan. Zugehört, sich interessiert und einfach da gewesen.
Ihr Mann ist seit einigen Jahren schon dement. Es kam schleichend und es wurde auch schleichend immer schlimmer. Auch ihr machen das Alter und verschiedene gesundheitliche Probleme zu schaffen. Auf ihn aufzupassen, ihn zu unterstützen und zu pflegen wurden genau so wie seine Krankheit auch schleichend immer mehr. Das ist ein Full Time Job. Tag und Nacht. Sie würde das aber trotzdem gerne tun, auch weiterhin, denn er ist ja ihr Mann. Sie möchte nicht ohne ihn sein und sie möchte für ihn da sein. Aber sie schafft es einfach nicht mehr, nervlich und kräftemässig. Die Belastung setzt ihr zu. Es geht ihr nicht mehr gut, sie schläft kaum noch und sie kann nicht mehr essen, ich glaube das sind die Nerven.
Manchmal erkennt er sie noch, manchmal nennt er sie Mami und manchmal ist er so verwirrt, dass er gar nicht mehr weiss, wer sie ist und wo er ist. Manchmal gehen noch ein paar Dinge selbständig und an vielen Tagen geht aber leider gar nichts mehr.
Nun geht es darum, einen neuen Weg einzuschlagen, denn ihr Mann braucht viel mehr Betreuung und sie kann das nicht mehr leisten. Schon lange nicht mehr. Nun geht es um den Eintritt in einem Pflegeheim. Und es geht auch darum, dass sie sich ein wenig erholen und wieder zur Ruhe kommen kann.
Er möchte aber nicht in ein Heim. Er möchte zuhause bleiben, bei ihr. Er hat Momente, da ist er noch ganz klar und realisiert das alles und dann bittet er sie, sie möge beim ihm bleiben. Und sie muss ihm versprechen, dass sie ihn nicht weg gibt.
Manchmal ist er irritiert, weil eine fremde Frau in seiner Wohnung ist. Dann schluckt sie ihre Tränen runter und erklärt ihm, wer sie ist. Manchmal sitzt er ganz still da und hält ihre Hand fest. Und manchmal hält nur sie fest und er lässt es geschehen, drückt aber selber nicht mehr.
Manchmal weint er, denn er merkt wie durcheinander er ist und auch, wie vergesslich. Manchmal schaut er sehnsüchtig aus dem Fenster und will auf den Hügel, den er dort sieht. Und manchmal sagt er, er möchte so am liebsten gar nicht mehr leben.
Und sie zerreisst es innerlich fast.
Sie hat mir das letzte Woche alles am Telefon erzählt, denn er war im Krankenhaus nach einem Sturz und sie konnte mir endlich mal alles erzählen. Und ganz viel weinen. Und nun darf ich ihr zuhören und sie trösten.
Ich muss ehrlich sagen, als sie mir das alles erzählt hat, musste ich die Tränen zurück halten. Ich habe dann geweint, als sie nicht mehr am Telefon war. Das tut mir sooooo Leid und ich verstehe das wirklich sooooo. Was für eine furchtbare Situation das ist…. Diese ganz, ganz schlimme Krankheit und was sie mit sich zieht. Sie musste sich nun gegen all ihre Versprechen, gegen seinen und schlussendlich eigentlich auch gegen ihren eigenen Willen dazu entscheiden. Und das war die richtige Entscheidung, da gibts keine Zweifel. Aber ich stelle es mir so wahnsinnig hart vor, wenn ein Ehepaar nach so vielen Jahren sozusagen getrennt wird.
Er wird dort in guten Händen sein. Und zuhause kann sie etwas zur Ruhe kommen. Sie muss nicht mehr immer mit einem Auge und mit einem Ohr schauen und hören, was er gerade macht, ob er hingefallen ist oder sich aus der Wohnung entfernen will. Sie kann vielleicht nochmal anfangen, das Leben ein wenig zu geniessen, wieder ein wenig freier sein.
Sie kann ihn besuchen. Zeit mit ihm verbringen.
Er hat sein Gefühl für Zeit verloren. Er weiss nicht, ob sie jede Woche kommt oder jeden Monat und ob sie fünf Minuten bleibt oder drei Stunden. Aber wenn sie dort ist, wird er sich freuen, glaube ich. Jedenfalls so lange er sie noch erkennt. Irgendwann wird er das nicht mehr.
Diesen Gedanken finde ich sehr unerträglich und es kommt mir so vor, als ob sie ihren Mann schon vor einer Weile verloren hätte, auch wenn er noch lebt. Sie hat das natürlich nicht gesagt, das ist nur mein Gedanke.
Ich habe mal gelesen, dass demente Menschen uns irgendwann nicht mehr erkennen oder nicht mehr wissen werden, wer wir sind und wie wir zu ihnen stehen. Aber sie werden es fühlen. Und das finde ich sehr schön. Aber gleichzeitig auch sehr traurig.
Diese Geschichte würde genau jetzt und genau so geschehen, egal ob Corona auch noch da ist oder nicht. Corona spielt dabei keine Rolle oder nur eine kleine. Die momentane Situation macht alles natürlich nicht einfacher, da gerade soziale Kontakte ihr über all das hinweg helfen würden.
Sie hätte Grund genug zum Jammern, aber sie tut es nicht.
Und so nimmt das Leben seinen Lauf. Das ist nur ein Beispiel. Es passiert noch ganz viel anderes, was viel mehr wiegt als Corona, ob wir eine Maske tragen müssen oder nicht an Konzerte können. Es gibt Menschen, die verlieren jemanden, den sie lieben. Menschen erkranken schwer, sterben oder bringen sich um. Menschen verlieren ihren Job, verletzen einander, haben Unfälle. Menschen werden umgebracht, Erdbeben verschütten eine Stadt. Menschen hungern, können ihre Rechnungen nicht bezahlen, machen sich Sorgen um ihre Existenz, haben ein krankes Kind…
Es muss nicht mal so gross und so dramatisch sein, um jemandem das Leben schwer zu machen. Kinder oder auch Erwachsene werden zum Beispiel jeden Tag gemobbt, ausgelacht oder bedroht.
Für all diese Schicksale gibt es hunderte, tausende von Beispielen.
Es gibt aber auch das andere. Tausend schöne Dinge passieren und es ist schwer, sie wahrzunehmen unter diesem schwarzen, schweren Umhang. Es werden Kinder geboren, Menschen verlieben sich, sie lachen und sind fröhlich, ganz viel Hilfsbereitschaft und Liebe, Menschen haben Glück und teilen es, Menschen genesen von schlimmen Krankheiten, werden gerettet.
Es gibt Menschen, die freundlich zueinander sind, die einander grüssen und sich zusammen freuen. Einfach leben, sich nicht über über jedes Stöckchen das ihnen vor die Füsse geworfen wird aufregen und glücklich sind so wie es ist.
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