Abbruch


Viele Jahre lang habe ich in Institutionen gearbeitet, in denen Kinder und Jugendliche wohnten. Die meisten für eine gewisse Zeit, andere bis sie volljährig waren oder noch ein paar Jahre länger.
In einem solchen Kontext sind Abbrüche ein allgegenwärtiges Thema. Beziehungsabbrüche. Viele von ihnen haben im Verlauf ihrer Kindheit und Jugend einiges an Beziehungsabbrüchen erlebt, leider oft auch mit ihren Eltern. Und dann natürlich in den Institutionen. Zum einen, wenn sie selbst in eine andere umziehen mussten aus irgendwelchen Gründen. Zum andern, wenn Bezugs- bzw Betreuungspersonen in diesen Heimen wechselten, was unter Umständen immer mal wieder der Fall ist.

Ich war noch jung, als ich Sozialpädagogin wurde und mit diesem Klientel angefangen habe zu arbeiten. Ich habe mir nicht zuviele Gedanken über all das gemacht. Bis ich bei meinem jetztigen Arbeitgeber war, habe ich tatsächlich immer mal wieder gewechselt.
Ich habe gelernt, mich in einem gewissen Masse abzugrenzen, mir all die Geschichten, Hintergründe und Menschen nicht zuuuuu sehr zu Herzen zu nehmen. Jedenfalls nicht so stark, dass es mich beelenden würde. Das klingt vielleicht hartherzig, aber ich finde das ist in meiner Arbeit etwas vom Wichtigsten, denn sonst würde man in diesem Beruf nicht lange bleiben bzw sehr schnell in einem Burn Out enden.
Man arbeitet sehr nah mit den Menschen zusammen, lernt sie gut kennen und wird für sie zu einer ihrer wichtigsten Personen. Temporär.
Die Kontakte sind nur beruflich. Man pflegt keinen persönlichen Kontakt in der Freizeit, keine Freundschaften oder was auch immer. Das hat verschiedene Gründe. Man nennt es „die professionelle Beziehung“.

In meinen vielen Jahren als Sozialpädagogin habe ich unzählige Menschen begleitet. Viele in der schwersten Phase ihres Lebens. Manche sehr kurz, andere ein paar Jahre lang. Ich muss zugeben, die meisten von ihnen habe ich wohl irgendwie vergessen bzw erinnere mich nicht mehr wirklich an sie. Es gibt aber auch solche, die ich nie vergessen könnte. Grad Babies und Kinder, die ich betreut habe und die einem vermutlich viel näher kommen als andere Menschen. Nur schon körperlich. Das hat man mit Jugendlichen oder Erwachsenen ja eher nicht, dass man sie in den Arm nimmt oder auf den Arm.
Dann kommen noch die Umstände dazu. Kleine Kinder, die nicht bei den Eltern sein können oder dürfen und dafür gibt es verschiedene Gründe und keiner davon ist schön.
Es klingt so niedlich…. Kinder von 0 bis 7, ja? Kinder von 0 bis 7, die schon viel zu viel erlebt haben. Kinder von psychisch kranken Eltern. Kinder von drogensüchtigen Eltern. Kinder, die misshandelt und missbraucht geworden sind. Kinder, deren Eltern aus Gründen nicht auf sie (und sich) aufpassen konnten. Man darf das nicht werten oder verurteilen, aber das stecken schlimme Schicksale dahinter.
Das war vermutlich mein härtester Job. Schwierige Elterarbeit und sehr anstrengende Arbeit mit den Kindern. Schön schon auch, aber man darf nicht vergessen, dass Menschen das was sie erlebt haben nicht abstreifen und irgendwo hinlegen können. Das hatten sie alle dabei, waren zum Teil auch verwahrlost und unerzogen.
Sie sind mir sehr ans Herz gewachsen damals. Nicht alle, aber schon einige.
Was wohl aus diesen kleinen Kindern geworden ist?

Ich habe vor langer Zeit mal von meiner Arbeit in einem Jugendheim für männliche, sogenannt dissoziale Jugendliche geschrieben. Damals war ich fast im selben Alter wie diese Jugendlichen und obwohl ich mich gut abgrenzen konnte und dies auch akzeptiert wurde von ihnen, ging mir da vieles nah. Vielleicht auch deshalb, weil das meine erste Anstellung als damals noch Sozialpädagogin in Ausbildung war. Ich musste noch lernen, wie ich mit den Lebensgeschichten meiner „Klienten“ und deren Schicksalen umgehen werde.
Die meisten von den Jugendlichen in dieser Institution waren dort, weil sie eine Jugendstrafe absitzen mussten. Das taten sie dort und schlossen dabei die Schule ab oder machten eine Ausbildung, beides intern. Ich habe sie im Bereich Wohnen begleitet, das mache ich immer, das ist mein Job.
Einfach war dieser Job damals also wirklich nicht. Aber ein guter Lehrmeister.

Diese Jungs und jungen Männer dort… einfach hatten sie es nicht. Und sie waren auch nicht einfach.
Im Vordergrund stand eine Straftat und das ging von Diebstahl, Drogenbesitz über bewaffneten Raubüberfall, Vergewaltigung oder Körperverletzung. Man sieht ja zuerst nur das, bzw hört. Ist ein bisschen schockiert. Oder ziemlich.
Und wenn man mit ihnen arbeitet lernt man sie kennen und auch ihre Familien. Auch die Hintergründe und man fängt an zu verstehen. Verständnis entschuldigt oder beschönigt nichts, das wird ja oft verwechselt. Verständnis versteht einfach nur.
Wenn man mit Menschen arbeitet, dann geht viel über Beziehung, denn es gehört viel Vertrauen dazu, wenn man jemandem erlaubt, hinzusehen, zu verstehen und zu unterstützen.

Da gibts schon den einen oder andern, an den ich mich gut erinnere und wo ich mich hin und wieder frage, was aus ihm geworden ist. Mich würde auch interessieren, wieviele von ihnen es geschafft haben, ein einigermassen „normales“ Leben zu führen ohne wieder kriminiell zu werden.

Eigentlich sollte das ja nun die Einleitung werden…. bisschen lang geworden. Aber macht ja nichts.

Was all diese Menschen unter anderem gemeinsam haben, sind Beziehungsabbrüche. Ich habe noch in andern Institutionen gearbeitet und ich bin mit ein paar wenigen „Jugendlichen“, die ich betreut habe noch in Kontakt. Unterdessen sind sie natürlich erwachsen. Und ein paar von ihnen haben mir das gesagt, dass es für sie nicht schön war, wenn eine Bezugsperson oder Betreuungsperson gekündigt hat und gegangen ist. „Nicht schön“ = richtig schlimm. In einigen Fällen sogar ähnlich, wie wenn ein Elternteil weg gehen würde.
Mir war das damals überhaupt nicht bewusst.

Ich denke, gerade auch Jugendliche brauchen jemanden, der Sicherheit und Nähe vermittelt. Und dann geht die, um irgendwo anders zu arbeiten. Kontaktabbruch, denn persönlichen Kontakt hat man nicht.

Ich denke, bei Kindern ist es ähnlich, wobei Kinder mit einem Vergessen-Modus ausgestattet sind bis zu einem gewissen Alter. Kinder kommen mit denen zurecht, die da sind. Sie lassen sich ein und leben im Jetzt. Ich habe das jedenfalls vor allem bei ganz kleinen Kindern so erlebt. Es kam vor, dass die nach ein paar Wochen ihre Eltern nicht mal mehr so richtig erkannt haben… Man stelle sich DAS mal vor… Horror.
Aber das ist ein nicht unwichtiger Überlebensmechanismus, wenn ihr mich fragt.

Wenn jemand weg geht, ist das ein Beziehungsabbruch, egal in welcher Beziehung man zueinander stand. Ein Verlassen werden.

Mich würde interessiern, wie andere damit umgehen oder gerade auch Menschen wie diese Kinder und Jugendlichen, mit denen ich gearbeitet habe, die dies ja öfter erlebt haben. Wie haben sie das erlebt? Haben sie einzelne Personen tatsächlich vermisst? Oder überhaupt nicht?
Gewöhnt man sich daran und lässt sich vielleicht dann nicht mehr so tief auf etwas ein? Und wie gehen diese Menschen dann später mit Beziehungen bzw mit „sich auf etwas einlassen“ oder der Angst, wieder verlassen zu werden um?
Wenn ihr so etwas erlebt habt. schreibt mir doch, das interessiert mich.

Beziehungsabbrüche erlebt ja fast jeder einmal oder einige Male im Leben, vor allem wohl dann, wenn eine Liebe zu Ende geht. Oder halt auch eine Freundschaft.
Manche zeichnen sich ab, man sieht sie kommen, andere kommen unerwartet und plötzlich. Manche verletzen uns sehr, manche weniger. Manchmal sind wir derjenige, der verletzt, manchmal werden wir verletzt.

Vor einiger Zeit ist es mir passiert, dass jemand, die ich wirklich sehr gern mochte, mir per whatsapp geschrieben hat, dass sie den Kontakt abbrechen will bzw wird.
Es war meines Wissens nichts vorgefallen und ich hatte keine Ahnung, warum. Ich habe geschrieben, dass ich überrascht bin, habe aber nicht nachgefragt. Schlussendlich bin ich der Meinung, dass das ihr Recht ist und dass man seine Wege nicht erklären müssen sollte. Möglicherweise haben ihre Gründe noch nicht mal etwas mit mir zu tun und dennoch werde ich wohl den Rest des Lebens damit verbringen, mich zu fragen, warum und was ich falsch gemacht habe.

Ich mag Enden nicht. Oder Abschiede. Ich kann damit ganz schlecht umgehen.
Ich werde nicht gern verlassen und ich denke, das hat damit zu tun, dass ich früh von meinen Eltern verlassen wurde, wenn man das so sagen kann. Abschiede…. Tod… irgendwie dasselbe Thema.

Es ist bestimmt nicht falsch, sich die Menschen, auf die man sich näher einlässt genauer anzuschauen, um zu verhindern, dass man sich oder ihnen weh tut.
Abbrüche kann man nicht verhindern. Man kann auch nicht verhindern, dass jemand traurig ist, wenn etwas zu Ende geht. Aber ich glaube, man kann verhindern, dass jemand verletzt wird. Und das ist nicht dasselbe wie traurig sein. Traurig sein ist, wenn jemand geht und er einem fehlen wird. Verletzt sein ist, wenn jemand geht und einem vorher noch ein Messer in die Brust stösst.
Das muss nicht sein…

Vielleicht ist es viel wichtiger, wie man geht als wie man kommt.


Eine Antwort zu „Abbruch”.

  1. Abbrüche und Verluste können tatsächlich zur Gewohnheit werden, das habe ich so erfahren. Man folgt diesem erlernten Muster solange, bis die Zeit für echte, innere Veränderung gekommen ist. Wenn der Verlust, das allein-sein das „kleinere Übel“ darstellt, zunächst einmal. Eine hervorragende Zeit, mit sich selbst Frieden zu finden.

    Andere Menschen kommen, um zu bleiben. Manchmal tatsächlich bis dass der Tod scheidet. Was zu mir, dir gehört, bleibt. Alles andere darf gehen. Bedingt durch meine Vergangenheit habe ich zahllose Menschen ziehen lassen (müssen).

    Herzliche Grüße in die Schweiz, Reiner
    Gefällt mir, dein Blog!

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