
Ich glaube, ich habe schon mehr als einmal über das Stark Sein geschrieben und mir liegt dieses Thema tatsächlich am Herzen.
Ich finde, dass der Begriff „stark sein“ ganz falsch verwendet wird in unserem Sprachgebrauch und dass da viel zu viele Dinge hinein interpretiert werden, die uns Menschen eigentlich gar nicht gut tun. Bzw “falsch verwendet“ kann man ja vermutlich nicht sagen, sondern wir füllen den Begriff mit unseren Erwartungen und Haltungen, die unserem oder vielleicht auch einem längst nicht mehr zeitgemässen Menschenbild entsprungen sind.
Finde ich zumindest. Auch da kann man natürlich unterschiedlicher Meinung sein, was ja zur Zeit wichtig ist zu erwähnen, so wie es scheint.
Stark sein verbinden wir wohl zuallererst vor allem mit körperlicher Kraft. Jemand, der sehr viele Gewichte stemmen kann ist stark. Muskeln! Oder jemand, der das Konfi-Glas öffnen kann, jemand der einen Marathon läuft oder jemand, die die Einkaufstaschen bis in den 5. Stock hinauf trägt. Jemand, die gesund ist, ist stark. Und jemand, der viel arbeitet ist auch stark, ebenso wie jemand, der einfach anpacken kann und keine Grenzen kennt.
Und dann ist da auch noch die psychische Stärke. Die ist weniger gut messbar als die körperliche. Oder vielleicht auch gar nicht. So im allgemeinen gilt jemand als stark, der erfolgreich ist, die gut funktioniert, gesund ist und viel leisten mag. Jemand, der nicht weint und sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt. Auch da empfinden wir Menschen als stark, die nicht so schnell oder gar nicht an ihre Grenzen kommen psychisch. Und natürlich ebenfalls gesunde Menschen.
Stark sein bedeutet unbezwingbar zu sein, nicht aufzugeben, viel aushalten zu können bzw. alles aushalten zu können, allem und jedem gewachsen zu sein. Körperlich und psychisch.
Stark sein bedeutet eigentlich, möglichst viel Lebenserfahrung, Gelassenheit und Wissen zu haben, aber bitte sehr ohne jemals im Leben eine Krise, eine Unsicherheit oder eine Entwicklung zu durchlaufen. Zumindest nicht für andere sicht- und spürbar, wenn‘s geht, danke.
Ich finde nicht, dass diese Definition stimmt.
Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der tatsächlich so funktioniert und ich glaube eigentlich auch gar nicht, dass sowas erstrebenswert ist.
Ich denke hingegen aber sehr wohl, dass ganz viele von uns nach diesem Credo leben oder es zumindest versuchen. Vordergründig. Denn so kommt man gut über die Runden, macht sich nicht angreifbar, weil sich das eh keiner trauen würde, wirkt souverän und halt eben diesem Bild von “stark“ entsprechend. Muss man ja! Und wer hätte nicht gern so einen Mitarbeiter, so eine Chefin oder so eine Freundin oder einen Ehemann? Jemand, der stark und zuverlässig ist, jemand der ein Fels in der Brandung darstellt und den kein Sturm umhauen kann. Jemand, der wirklich alles immer im Griff hat.
Und dann strebt man dieses Ideal halt an. Muss ja irgendwie, um nicht drunter zu kommen. Und wie gesagt, vordergründig ist das schon möglich. Dann überspielt man halt einiges, zeigt sein wahres Ich nicht, selten oder nur auserwählten, spielt eine Rolle. Und funktioniert genau so wie es von einem erwartet wird. Nur keine Schwäche zeigen. Der Schein zählt. Es ist nicht alles Gold, aber Hauptsache es glänzt.
Alles andere wäre Schwäche.
Und diejenige ist dann die andere Seite der Medaille, denn da wo ein Stark ist, muss es zweifelsohne auch ein Schwach geben. Und wenn man davon ausgeht, dass das Stark das Erstrebenswerte ist, dann ist das Schwach das, was man nicht sein sollte oder möchte. Es bedeutet ein Manko, ein Defizit, irgendetwas was gerade nicht funktioniert oder nicht zurecht kommt. Irgendetwas, das inkomplett ist, fehlerhaft, nicht genügend. Nicht genug.
Natürlich sind das verallgemeinernde Stereotypen und ich weiss schon, dass die nicht allgemein und von jedem so gesehen werden. Aber dennoch glaube ich, dass diese zwar leicht übertrieben, aber dennoch so in unseren Haltungen uns und andern gegenüber verankert sind und tagtäglich gelebt werden. Denn warum schäme ich mich beim Tierarzt, wenn ich heule wenn mein Meerschweinchen eingeschläfert werden muss? Warum ist es mir unangenehm, wenn ich eine Krise habe, wenn mein Mann und ich uns trennen? Warum spricht keiner über Eheprobleme oder über Erziehungszeugs, wo man gerade nicht so recht weiter weiss? Warum ist es immer noch schwierig, als Mutter zu sagen, dass man völlig KO ist und dass die Kinder einem manchmal nerven oder zuviel sind? Warum überschminkt man verweinte, rote Augen? usw…
Und für mich stimmt das so überhaupt nicht.
Ich bin zum Beispiel sehr davon überzeugt, dass gerade Menschen, denen etwas fehlt, bei denen gerade etwas nicht stimmt, die mit irgendwelchen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wahnsinnig stark sind. Und ganz besonders genau in diesem Moment, in dem sie sich so schwach fühlen oder von andern so angesehen werden, ganz besonders stark sind. Und auch mutig. Gerade, weil sie etwas aushalten müssen und es auch tun. Gerade, weil sie gegen etwas standhalten, dagegen ankämpfen oder einfach nur akzeptieren, dass es jetzt im Moment so ist wie es ist. Das ist stark und zwar mit allem drum und dran. Mit überfordert sein, mit weinen, mit zusammenbrechen und was auch immer dann passiert. Und auch vor allem damit, Hilfe zu organisieren, falls das notwendig wird.
All das könnte jemand, der schwach ist, gar nicht bewerkstelligen.
Ich kenne jemanden, dem geht es schon eine ganze Weile sehr schlecht und momentan jetzt ganz besonders. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich schwach fühlt. Und ich glaube auch, das kann sich auch wirklich genau so anfühlen. Schwach, antriebslos, keine Energie mehr, leer, kaputt, dunkel.
Depression.
Ich glaube, dass er extrem stark ist. Genau jetzt. Und es ist auch ganz besonders wichtig, dass er das jetzt ist, denn jetzt geht es um alles.
Das ist in Krisen so. Es geht ums Überleben, auch wenn das für Aussenstehende zu dramatisch klingen mag, nein, das ist wirklich so. Da muss jemand seine ganz Kraft zusammen raufen und sich ausschliesslich nur noch darauf konzentieren, wenn das geht. Einer solchen Person einen Knüppfel zwischen die Beine zu werden, das tut man nicht. Wenn, dann händigt man ihm den Knüppel aus, damit er sich daran festhhalten kann.
Ich bin davon überzeugt, dass funktionieren, oberflächlich sein und sich nie etwas anmerken lassen sehr oft einfacher ist und dass man diesen Schein wohl eine ganze Weile wahren kann. Aber warum würde man das denn müssen? Wir wissen doch alle, dass Ups and Downs zum Leben gehören und ich finde es erstrebenswert, beides als Teile des Menschen einfach zu akzeptieren und nicht zu werten. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass wir Menschen so viel weniger Stress hätten, viel weniger Druck und viel mehr Zeit und Energie, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dieses Funktionieren müssen, dieses sich nichts anmerken lassen, nicht schwach sein dürfen, das macht ganz viele Menschen innerlich kaputt, während sie äusserlich noch total unversehrt aussehen.
Ausserdem kann man sich ruhig bewusst sein, dass wenn wir andere abwerten, wir uns eigentlich damit aufwerten möchten. Funktioniert aber nicht, weil es scheisse ist.
Ich persönliche denke ja, dass ich der stärkste Mensch bin, den ich kenne. Damit wertschätze ich mich und all meine Herausforderungen, die ich in meinem bisherigen Leben gemeistert habe. Ich wertschätze es, dass ich Situationen akzeptiert, Überforderungen zugelassen und damit Entwicklung möglich gemacht habe.
Ich bin eher nicht so der Mensch, der ausweicht und sich Nebenschauplätze sucht, um das Eigentliche zu umgehen. Ich bin eher so der Mensch, der weinend zusammenbricht, dann aber schnell mal wieder aufsteht und mit der Lösung im Auge weiter geht. Es ist mir ein Anliegen, mir Zeit zu nehmen auf meinem Weg, aber auch nicht in einer schwierigen Situation ewig zu verharren. Ich finde immer schnell Lösungen und beginne, weiter zu gehen.
Und es ist mir auch wichtig, zurück blicken zu können, ohne Angst, Wut oder unbändiger Trauer. Ich trage meinen Rucksack, wie ihr alle auch und ich habe mich dazu entschlossen, darin nichts Unnötiges und schon gar keine Leichen mein ganzes Leben lang herum zu tragen.
Ich weine, wenn ich traurig bin, wenn ich total überfordert bin, wenn ich wütend bin, wenn ich gerührt bin und wenn ich wahnsinnig glücklich bin. Das ist nicht schwach. Das ist ganz normal. Dazu wäre noch zu sagen, dass ich viel öfter lache als weine. In normalen Zeiten jedenfalls. Es hat aber auch schon Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen ich fast nur geweint habe. Gehört auch mal dazu. Wer das nie hatte, hat nicht alle Facetten des Lebens kennen gelernt.
Manchmal braucht es Mut, zu sich selbst zu stehen und zu den vermeintlichen Schwächen. Es braucht Mut, zu weinen. Es braucht Mut, eine Überforderung zuzugeben oder ein Ungleichgewicht, etwas was uns nicht gefällt oder wütend macht. Denn manchmal machen wir uns so angreifbar. Leider. Menschen, die dann aber genau solche Situationen ausnützen, die fühlen sich ja als die Stärkeren. Als die Überlegenen. Genau. Aber wenn man es sich ganz genau überlegt, sind sie erbärmlich und vermutlich voller Neid, Angst und Eifersucht, denn sonst würden sie verständnisvoll und hilfreich reagieren. (Bea, ich hoffe, du liest das.)
Ich hoffe, ihr alle wisst auch, dass ihr die stärkste Person sein, die ihr kennt, denn das ist ganz bestimmt so. Andere wissen nicht immer, welche Kämpfe wir innerlich ausfechten müssen und wieviel Energie und Kraft das alles immer braucht. Aber das macht nichts, es reicht wenn wir es tun und wenn wir wissen, dass nicht nur andere das von uns nicht wissen, sondern auch wir von ihnen nicht und so einander wertschätzend gegenüber treten.
Das mit dem Wertschätzend Sein habe ich mir sowieso in den letzten Tagen mal überlegt. Ich glaube ja, dass nicht Covid-19 unser grösstes Problem ist, sondern die fehlende Wertschätzung für einander.
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