Lebensgeschichte


Ich glaube, es ist ein Irrtum zu glauben, das Leben schriebe seine Geschichte bzw nur EINE Geschichte. Die eine Lebensgeschichte, die gibt es nicht. Auch nicht, wenn man denkt, es sei eine mit ganz, ganz vielen Kapiteln.
Ich für mich glaube, dass jeder Mensch Teil von ganz vielen verschiedenen Lebensgeschichten ist. Den eigenen und auch denen anderer Personen, vielleicht ziemlich oft sogar unwissentlich. All diese Geschichten sind ineinander verzettelt und verschmelzen, so dass man nicht mehr genau weiss, wo die eine beginnt und die andere endet. Ja, so ist das.

Mit jedem Menschen, den wir etwas näher an uns heran lassen, verbindet uns eine Geschichte oder genauer gesagt, eine Schnittstelle, die wir in unseren Lebensgeschichten gemeinsam haben. So etwas wie ein Kapitel, das aber mit Aquarellfarben geschrieben und ganz langsam wässrig wird, um in den weiteren Verlauf dieser Lebensgeschichte zu rinnen und auch dort seine Spuren zu zeichnen, neue Bilder zu beginnen oder vorhandene einzufärben. Ganz bunt oder dunkel, je nachdem welche Farben dafür benutzt wurden.
Mögliche Schnittstellen oder Verbindungspunkte sind zum Beispiel die Kindheit, die Schulzeit, Militär oder Ausbildung, die Arbeit, ein Hobby oder Interessen, ein Verein, Freundschaft, Liebe oder Familie usw.
Diese Schnittstelle mag 10 Minuten lang bestehen bleiben, zwei Wochen, vier oder siebzig Jahre. Die Verbindung mag ganz eng und stark sein, so wie eine Stahlkette, an der ein schwerer, grosser Anker hängt. Wie eine Brücke, die zwei Ufer konstant miteinander verbindet. Oder sie mag elastisch und flexibel sein, so wie ein Gummiband, mal näher, mal ferner, aber sie hält. Vielleicht ist sie wie Kaugummi, der reisst, wenn man zu sehr am Faden zieht. Sie kann ein dünner Faden sein, den man gerade erst zu spinnen beginnt, noch offen, ob ein Tau daraus wird oder ob er schon bald wieder brechen wird.

In meinem bisherigen Leben habe ich vor allem eins gelernt und das ist, dass die Intensität einer Verbindung nicht von ihrer Dauer abhängig ist. Menschen, die wir nur sehr kurz kennen, können uns ebenso stark beeinflussen – wie auch immer – wie Menschen, die sich schon ewig in unserem Beziehungsnetz befinden. Und andersrum funktioniert das auch. Menschen, die wir sehr lange kennen müssen uns nicht unbedingt am nächsten stehen. Die Intensität solcher Verbindungen entsteht durch das Material aus dem der Strick gemacht ist, der einem zusammen hält. Dabei kommt auch wieder Togetherness zum Zug. Zusammengehörigkeit. So ein Strick wird natürlich viel stabiler und viel stärker, wenn man zusammen daran arbeitet, den zuerst dünnen Faden zu einer Kordel dreht oder ihn knüpft und immer wieder neue Fäden dazu fügt. Wenn man das auf beiden Seiten tut, dann wird das ein stabiler Strick, der ganz schön viel aushalten kann und vermutlich wird er das früher oder später mal müssen.

Lebensgeschichten. Ich glaube, dass ganz viele Menschen in unseren Geschichten mitspielen und wir in ihren. Mal als Hauptrolle, mal als Nebenrolle oder nur als Statist. Mal als Richtungsweiser, mal als Stopper oder als Booster. Ich bin mir ganz sicher, dass jede Person, die wir rein lassen, sei es physich oder psychisch oder beides, in uns seine Spuren hinterlässt und damit unseren weiteren Lebensweg beeinflusst, in welche Richtung auch immer. Ich glaube, das ist ganz wichtig zu wissen, denn vielleicht wird das unseren Umgang mit andern Menschen verändern. Zum einen, weil auch wir unsere Spuren hinterlassen und ich persönlich hätte es lieber, wenn ich niemanden traumatisieren oder irgendwie negativ beeinflussen würde. Wir wissen aber ja nicht immer, was wir womit bei andern auslösen, welche Rolle wir für jemanden einnehmen und was andere für uns fühlen. Zum andern, weil ich mir auch gut überlegen will, wer mir näher kommen darf.

Ich glaube, auch das ist Achtsamkeit. Für uns selbst und auch andern gegenüber.

3 Antworten zu „Lebensgeschichte”.

  1. Der Lebensweg, der Weg des Lebens, die Vielfalt, weil, das Individuum. Wir mögen aber auch Gewohnheiten, damit wir nicht täglich unser Leben neu erfinden müssen. Ähnliche Gedanken hatte ich auch schon mit dem Meinungs-Austausch. Auch wenn wir ganz klar andere Meinung sind, kann dieser Austausch uns doch beeinflussen, verändern oder eben vielleicht auch bestärken!

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  2. Das ist wahr, die eine Lebensgeschichte, die gibt es so nicht. Vielmehr sind es Folien, die immer wieder übereinandergelegt ein ziemlich wildes, wirres Muster ergeben, das niemand mehr lesen könnte, kein Psychotherapeut, kein Partner, man selbst sowieso nicht. Und niemand hat alle Folien (unser menschliches Gedächtnis beachtet wieder unter Einschluß der eigenen Person)! Ja, die Stasi – Akten und die Google-, Facebook-, NSA- Unterlagen mögen toll, insbesondere für Verbesserungswünsche vom chinesischen Typ (den Krankenkassen und Arbeitgeber teilen) sein, aber auch die ergeben kein Gesamtbild.
    Es könnte sein, dass dies einer der Hauptgründe für den Gotteswunsch der Menschen ist: die sicher uralte Erkenntnis, dass da immer noch eine Schicht ist, immer noch mal etwas Übersehenes, Unbeachtetes. Und, wie sagte der Zauberer über die Zwerge beim Herrn der Ringe, „sie haben zu tief gegraben“ – die vollständige Erkenntnis auch über das Selbst würde keiner wollen, keiner aushalten. Wir sind mit unserem mehr oder weniger schlampig zusammengebauten Selbstbild noch gut bedient. Komisch, dass hier immer die Religio hereinspielt: Ja, ja, nein, nein – was darüber ist, ist vom Bösen. Und das, obwohl wir gerade hier auch die unterbelichteten Grauzonen brauchen.

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  3. Das mit dem Strick gefällt mir. Ich benutze ja immer das Band, das verbindet. Mal ist es gespannt, mal locker…aber es zerreißt nicht. Und das ist das Schöne an so mancher Geschichte…

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Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.

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