Wenn Trauer sich in Erinnerung verwandelt


In meinem Hobby-Zimmer steht seit 10 Jahren eine Bananenschachtel. Sie wurde nicht oft geöffnet. Ihr Inhalt ist wertvoll für mich, aber auch schmerzvoll…

Vor 10 Jahren mussten wir die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, leeren weil sie nicht mehr gebraucht wurde. Ich war schon längst ausgezogen, meine Mutter schon lange gestorben und mein Vater jetzt auch. Mein Bruder zog nun zwangsläufig aus.
Das war ein ganzer Haushalt, alle Dinge so vertraut. In meinem ehemaligen Kinderzimmer standen noch einige Dinge aus meiner Jugendzeit, Bett, Schrank und sonstige Kleinigkeiten. Im Wohnzimmer, in der Küche und im Elternschlafzimmer alle Dinge, die meine Eltern besassen. Alles musste raus, der Eigentümer wollte die Wohnung so schnell wie möglich wieder vermieten. Logisch. Wir konnten nicht vieles behalten, halt wegen Platzmangel. Mein Bruder und ich nahmen beide ein paar Erinnerungsstücke mit und ein paar Unterlagen, Schmuckstücke und Kleinigkeiten. Das Leben meiner Eltern in einer Bananenschachtel. Mehr blieb nicht übrig.
Alles andere wurde entsorgt. In einer Mulde, die unten stand. Das Sofa und die Sessel auf  denen wir immer lagen. Der Tisch, an dem Papa immer sass. Ich sehe ihn noch heute so vor mir. Mit einer Zigarette in der Hand, die Luzerner Zeitung lesend.
Aus der Küche nahm ich allerlei mit nach Hause. Kleine Dessert-Schälchen aus Kristallglas zum Beispiel, aus denen wir früher den Pudding gegessen haben, den Mami gemacht hatte. Ein Hochzeitsgeschenk waren die damals. Aus denen essen wir nun den Pudding, den ich mache.
Im Kleiderschrank meines Vaters war alles noch wie vor dem Tod meiner Mutter. Mir wurde bewusst, dass er vielleicht schlechter zurecht kam als ich dachte. Er hatte nichts weggeräumt, nichts entsorgt. All ihre Kleidungsstücke waren noch im Schrank. Es nahm mir fast den Atem, weil ich das nie so richtig realisiert hatte. Weil ich zu sehr mit meiner Trauer beschäftigt war…

Wenn ich zurück schaue, dann finde ich heute, dass diese ganze Räumung zu kurz nach dem Tod war. Ich war überhaupt noch nicht bereit. Ich erinnere mich, wie ich geweint habe bzw versucht habe nicht zu weinen, als die Helfer all die Dinge und irgendwie damit all die Überreste meiner Eltern, meiner Familie aus dem Fenster in die Mulde warfen. Emotionslos und als wäre alles wertlos. War es für sie ja auch. Schön war das nicht. Es ging um viel mehr als nur diese Möbelstücke und Gegenstände. Es ging um loslassen und akzeptieren, dass nun ein neuer Lebensabschnitt beginnen würde. Irgendwie. Und ich konnte das zu diesem Zeitpunkt nicht aushalten. Also ging ich in die neue Wohnung meines Bruders und half ihm, alles einzurichten, während andere Menschen die Wohnung unserer Eltern räumten.

Könnte ich die Zeit zurück drehen und etwas anders machen, dann wäre es genau das. Ich würde mir mehr Zeit nehmen und dann in Ruhe alles durchgehen und mir besser überlegen, was ich noch möchte und was nicht. Ich würde das sogar sehr gern tun. Denn in den letzten Jahren gab es immer wieder Dinge, an die ich denken musste und die ich vermisse. Zum Beispiel bereue ich es zutiefst, dass ich es zugelassen habe, dass das schöne Geschirr mit Goldrand meiner Mama weggeworden wurde. Oder die Box mit dem Christbaumschmuck. Nichts wertvolles, aber vertraute Kugeln und Dinge voller Tradition. Die hätte ich wahnsinnig gerne noch. Daran denke ich jedes Weihnachten ein wenig wehmütig beim Schmücken des Baumes.

Aber man kann die Zeit nicht zurück drehen und es ist so wie es ist. Jetzt ist da aber noch diese Schachtel und eigentlich steht die nur so rum, nimmt Platz weg, den wir besser nutzen könnten und verstaubt vor sich hin. Und gestern wurde sie geöffnet, seit wirklich langer Zeit wieder mal. Und ich habe den Inhalt einer grossen Bananenschachtel so reduziert, dass sie nun in eine kleinere Erinnerungsschachtel passt.
Ich konnte mich an das meiste erinnern, was da drin war, schliesslich habe ich es ja eigenhändig da rein getan. Vieles habe ich aber auch irgendwie ein bisschen vergessen. Es war schön, die alten Fotos anzuschauen und sie dem Kind zu zeigen. Sie hat ihre Grosseltern ja nie gesehen.

Da drin waren all die Abrechnungen vom Krankenhaus und von der Krankenkasse, die wurden nun geschreddert. Schmerzhaft, all die Positionen darauf zu sehen und schockierend, wie teuer so eine Krebsbekämpfung ist… Und das alles hat ihn damals so her genommen, im alle Kräfte geraubt und am Schluss war es umsonst.

Ich habe immer noch eine Zigarre, die Paps im Auto liegen gelassen hatte und zwei Schweizer Taschenmesser, auf denen sein Name eingraviert ist. So eines habe ich immer dabei, wenn wir in den Wald gehen. Ich habe auch immer noch Notizzettel, auf denen er etwas aufgeschrieben hatte. Seine Handschrift. Leider verblasst die Kugelschreiber-Schrift allmählich. Ich habe auch noch eine Busse. Geschwindigkeitsüberschreitung, als ich für ihn etwas besorgen wollte und wohl leicht gestresst war. Die hat er mir bezahlt, zwei Tage vor seinem Tod. Habe ich auch aufbewahrt. Und ein alter, sehr verbeulter Flachmann, ich glaube der ist aus dem Militär. Kastagnetten! Olé! Eine uralte Filmkamera, ein Feldstecher und noch ein paar andere Gegenstände. Schöne kleine Dinge, Erinnerungen.

Gestern war der richtige Zeitpunkt, diese Schachtel zu öffnen. Vermutlich tut man solche Dinge genau dann, wenn man soweit ist und das war ich. Ich habe wirklich einiges in den Abfallsack geworfen, viel Papierkram geschreddert, mich erinnert, dem Kind viel erzählt, gelacht und  geweint.
Ja, das hat mich sogar einigermassen überrascht, dass das nach mehr als zehn Jahren doch noch so viel auslösen kann. Vor allem Die Unterlagen vom Krankenhaus…. Diese zu sehen, liessen noch viel Traurigkeit hoch kommen.

Sehr viel Trauer hat sich im Verlauf der letzten Jahre aber in schöne, dankbare Erinnerungen verwandelt und das ist gut so.

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