Warum werden Menschen „böse“? Warum tun sie anderen Menschen weh? Warum machen Menschen Menschen kaputt? Warum töten Menschen? Warum misshandeln Menschen andere? Warum????
Für mich gehen diese Fragen weit, weit hinab in die Tiefen der menschlichen Psyche. Mich hat das schon immer besonders interessiert. In meiner Ausbildung wurden diese Themen zum Teil angeschnitten, aber doch zu wenig tief, um wirklich Antworten zu finden. Ich habe ja nicht Psychologie oder Psychiatrie studiert, sondern Sozialpädagogik. Während meines Studiums habe ich für mehrere Jahre in einer Institution für delinquente männliche Jugendliche und junge Erwachsene gearbeitet. Ich war damals kaum älter als sie. Diese Jahre waren berufsmässig wohl die härtesten meines Lebens für mich, vielleicht aber auch die lehrreichsten. Ich war jung und einigermassen unvoreingenommen, wenn ich mich richtig erinnere. Es war für mich anfangs eine Herausforderung, mich genügend abgrenzen zu können, um von diesen jungen Männern nicht als Kumpeline (wieder ein Wort erfunden?) oder Freundin gesehen, sondern als Erzieherin akzeptiert zu werden. Ich war wohl die jüngste Mitarbeiterin und auch eine von sehr wenigen Frauen in diesem Arbeitsbereich, es hatte nur zwei oder drei zu dieser Zeit. Ein wirklich tolles Männerteam ermöglichte es mir, mich zu entwickeln, zu lernen, auszuprobieren und meine Erfahrungen zu machen. Das war eine richtig harte Zeit.
Aber darum geht es mir ja gar nicht heute. Es geht mir um die Jugendlichen, die ich dort betreute. Dieses Jugendheim, lag (und liegt) irgendwo am Ende der Welt. Aus verschiedenen Gründen… zum einen wurden solche Einrichtungen sowie auch Alters- oder Behindertenheime zu früheren Zeiten so gebaut. Möglichst weit weg, damit niemand mit diesen Menschen in Berührung kommt (gut, dass sich das unterdessen aber geändert hat). Zum andern machte das aber natürlich auch Sinn, denn all diese jungen Männer sassen dort ja eine Jugendstrafe ab, im offenen Rahmen, d.h. sie waren nicht eingeschlossen. Freiwillig dort waren sie aber halt auch nicht. Und es kam immer mal wieder vor, dass einer abhaute, „auf Kurve ging“ und irgendwann von der Polizei zurück gebracht wurde. Kam dies öfter vor, wurde er in eine geschlossene Institution übersiedelt. Dort kommt man dann nicht mehr einfach so raus.
Das war die Vorgeschichte, nun komme ich (endlich) zum Wesentlichen, was ich eigentlich sagen will.
Diese Jugendlichen… jeder verurteilt, jeder sass eine Jugendstrafe ab, weil er zu jung fürs Gefängnis war. Meistens wurde die Jugendanwaltschaft ja schon auf sie aufmerksam, bevor sie eine Straftat, die einen sogenannten Freiheitsentzug nach sich zieht, begangen haben. Schlägereien, Diebstahl, Vandalismus, Drogenbesitz und -Konsum usw. Irgendwann passierte dann etwas schlimmeres und es kam zu einer Verurteilung. Die eben genannten sind ja die harmloseren, oder? Es hatte auch andere. Raubüberfälle und Einbrüche mit Waffen, schwerere Körperverletzungen… Schlimme Taten zum Teil. Das war die eine Seite dieser Sache. Die Straftat. Darauf werden sie dann ja oft auch reduziert.
Bevor ich jetzt weiter schreibe ist es mir wichtig zu sagen, dass ich hier nichts schönreden oder entschuldigen will. Nein. Straftaten sind Straftaten, dafür muss der Täter gerade stehen, da wird nichts entschuldigt. Aber Erklärungen kann man vielleicht finden, man kann sich fragen, warum konnte das passieren, was war da los? Vielleicht kann man ihn dabei unterstützen, etwas zu ändern, denn er hat sein Leben ja noch vor sich.
Wenn die Straftat die eine Seite ist, was ist denn dann die andere Seite?
In der Zusammenarbeit mit diesen Männern bzw. zum Teil waren das ja noch Jungs, die Jüngsten 14, 15 Jahre alt, habe ich schon Erklärungen gefunden.
Ich glaube, Menschen werden mehrheitlich heil und als gute Menschen geboren (leider gibt’s da auch Ausnahmen, ich weiss). Babies sind noch unschuldig und lieb… und was passiert dann?
Der Aufenthalt in einer solchen Institution soll ja nicht nur Strafe, sondern auch Chance und Sprungbrett in eine hoffentlich bessere Zukunft sein. Ziel ist es, nicht mehr straffällig zu werden. So haben die Jugendlichen, wenn sie austreten einen Lehrabschluss, alle machen also intern eine Berufsausbildung, ihrem Ausbildungsniveau entsprechend.
Es wird systemisch gearbeitet, das heisst die Familie oder auch sonst wichtige Bezugspersonen werden miteinbezogen. Wenn man nur einen Teil, also z.B. dieses Kind, aus dem „kranken“ Familiensystem raus nähme, es therapieren, „heilen“ und danach wieder in sein unverändertes System zurück stellen würde, wäre schwupps alles wieder beim alten. Viele Verhaltensweisen sind Überlebensstrategien oder Reaktionen auf unser Umfeld, so auch sogenanntes Fehlverhalten. So war diese Familienarbeit ziemlich zentral, dazu kam noch die „Arbeit“ usw. mit dem Jugendlichen selbst. Die Begleitung und Auseinandersetzung im Alltag, „Beziehungsarbeit“, neue Problemlösungsstrategien üben, bei vielen der Umgang mit Aggressionen und Frust, Gespräche usw… Es waren ja nicht alle gleich. Aber ich habe unter der Oberfläche zum Teil sehr verletzte, verängstigte Kinder angetroffen.
Man hat ja so seine Vorurteile, wenn es um „solche“ Menschen geht, oder? Viele denken z.B. dass das alles sowieso nur Ausländer sind. Unterste Schicht irgendwie, teuer, selber schuld, Abschaum… die machen Angst mit ihrem Verhalten, wenn sie so laut und provokativ sind. Mit denen will man lieber nichts zu tun haben. Ich denke, etwas mehr als die Hälfte waren tatsächlich Jugendliche mit ausländischen Wurzeln, die anderen Schweizer. Eigentlich durchs Band überall schwierige Familiensituationen und interessanterweise mehrheitlich abwesende Väter. Das ist ja wieder ein Thema für sich, das fehlende männliche Rollenmodell und die Suche danach. Ich glaube, darüber sollte ich hier auch mal schreiben. Das bzw. meine Rolle als weibliche Erziehungsperson in der Arbeit mit einem ausschliesslich männlichen Klientel, war Thema meiner Diplomarbeit.
Also bei fast allen war klar, was schief gelaufen war, die meisten haben schlimme Dinge erlebt, viel Gewalt, viele wurden schon früh alleine gelassen, kulturelle Schwierigkeiten, überforderte Mütter, z.B. alleinerziehend, in einem Land in dem sie wenig integriert waren, selber Gewalt erlebt, psychische Probleme, Drogenproblematik usw. Meistens kamen mehrere Faktoren zusammen.
Ich habe mich nicht gewundert, warum einige so geworden sind, wie sie geworden sind. Und ganz am Anfang hatte ich wirklich sehr Mühe, mit all diesen Geschichten umzugehen. Oft fuhr ich nach Feierabend weinend nach Hause, berührt von diesen Geschichten, in mir der Wunsch zu helfen. Natürlich habe ich den Umgang mit all diesen tragischen Hintergründen gelernt. Ich habe gelernt, mich abzugrenzen, mir nicht alles sooo sehr zu Herzen zu nehmen und auch, dass ich in meinem Beruf Menschen für eine Weile begleite, dass ich ihnen etwas mitgeben kann, aber dass das nicht für immer ist. Irgendwann gehen sie vielleicht auf ihrem Weg weiter. Oder ich.
Ich weiss, dass diese Menschen es nicht einfach finden, wenn diese wichtige Bezugsperson wegfällt. Wieder ein Abbruch, wieder ein Wechsel. Aber das geht gar nicht, man muss privates und berufliches trennen so gut es geht, auch wenn man mit Menschen arbeitet. Auch um sich selbst zu schützen. Ich habe schon soooo viele Menschen auf einem Teil ihres Weges begleitet, das würde gar nicht gehen. Ich könnte das gar nicht, zeitlich und auch energiemässig nicht. Mit einigen bin ich immer wieder mal in Kontakt, mit den meisten natürlich aber nicht.
Auch das wäre ein interessantes Thema, ich werde es bestimmt ein anderes Mal wieder aufnehmen.
Die Zeit im Jugendheim ist viele Jahr her. Ich erinnere mich noch an einige der Jugendlichen, andere sind vergessen. Ich bekomme die Menschen, mit denen ich arbeite, meistens ja gern. Sie zeigen so viel von sich, man baut eine Beziehung auf, ein Vertrauen, arbeitet eng zusammen, das ist schon etwas besonderes. Einige sind näher, andere weiter weg. Natürlich bleibt diese Beziehung immer auf einer professionellen Ebene, das ist sehr wichtig. Deswegen nimmt man sie auch nicht auf die „private“ Ebene.
Ich frage mich oft, was aus ihnen geworden ist. Wieviele von ihnen haben es geschafft, ein einigermassen „normales“ Leben zu führen? Wieviele sind im Knast gelandet? Konnte ich etwas bewirken? Oder nichts?
Ich habe in der Arbeit mit diesen jungen Männern wirklich viel gelernt. Das war ja mein erster Job im Sozialbereich, alles noch neu. Natürlich habe ich mich beruflich stark entwickelt, aber auch menschlich. Ich habe gelernt, dass ich niemanden verurteilen will aufgrund dessen, was er getan hat. Bevor ich mir ein Urteil bilde, möchte ich Hintergründe wissen, Fragen stellen… Ich habe gelernt, dass es Gründe hat, warum jemand handelt wie er handelt. Wie gesagt, es entschuldigt nichts. Und auf der anderen Seite steht auch immer ein Opfer. Und manchmal passiert es auch, dass Täter irgendwann auch mal Opfer waren… Oft.
Im beruflichen Umfeld nehme ich eine andere Rolle ein als im privaten. Ich kann im beruflichen Umfeld dann auch viel besser mit solchen Themen umgehen als privat, ich denke das ist nachvollziehbar.
Ganz, ganz schwierige Themen sind das. Eigentlich weiss ich gar nicht mehr so richtig, worüber ich anfangs schreiben wollte. Der ganze Text ist bestimmt ein komplettes Durcheinander, ich bin dauernd abgeschweift. Nehmen sie daraus, was sie möchten oder nichts, ich überlasse das Ihnen. Für mich ist die Kernaussage, das mit dem Verurteilen und dass es für alles Gründe hat. Das ist etwas, was mir sehr wichtig ist. Und auch, dass Menschen es wert sind, in sie zu investieren. Für ein besseres Leben und dafür, dass einander weniger weh getan wird. Investieren…. Zeit, Hoffnung, Glauben, Geld…