Kintsugi – Schönheit durch Makel


Wir schämen uns für unsere Falten und Rillen im Gesicht und überall und ganz besonders auch für die, die uns das Leben auf der Seele hinterlässt.

So viele Risse und doch fallen wir nicht auseinander.
So viele Risse und doch sind wir noch ganz.

Wir geben uns höchste Mühe und geben viel Geld aus, um all unsere Risse innen und aussen verschwinden zu lassen bzw möglichst zu kaschieren. Dabei vergessen wir, dass all das eigentlich nichts anderes ist als die Spuren, die das Leben an uns hinterlässt. So wie ein Baum seine Jahresringe bekommt oder ein Blatt vom satten hellgrün im Herbst zu braun oder rot wechselt, verändern auch wir Menschen uns mit den Jahren. Unsere Lebensjahre werden auf unserer Haut sichtbar und unser Körper verändert sich, wird müder und älter. Unsere Lebensjahre werden aber auch in unserer Seele sichtbar. Wir werden erfahrener, tiefer und besonnener. Wenn wir es zulassen. All die gemachten Erfahrungen machen uns Menschen zu genau dem, was wir sind. Sie formen unsere Persönlichkeit so wie nichts anderes auf dieser Welt.
Im Verlauf unseres Lebens werden uns unzählige Wunden zugefügt, die auf unserem Körper manchmal als Narben sichtbar und auf unserer Seele unsichtbar bestehen bleiben. Manche tun bis ans Lebensende weh, wenn jemand drauf drückt, andere gar nicht mehr.

Schöne Erlebnisse sind so wichtig und geben uns Kraft für so vieles andere in diesem Leben. Daraus schöpfen wir immer wieder Mut und Hoffnung, Freude und Liebe. Ebenso wichtig sind aber die weniger schönen Erfahrungen. Die, die Wunden aufreissen, die dann schmerzvoll vernarben. So wie sie verwachsen und heilen, so haben auch wir als Menschen die Chance, daran zu wachsen und zu heilen. Denn es sind genau diese Narben, die uns nie vergessen lassen, welch grosse Kraft in uns steckt, was wir alles überstanden haben und die uns die Gewissheit geben, dass wir auch alles, was noch kommen mag, überstehen werden.
Mega wertvoll.

Eigentlich schade, dass wir all diese Risse nicht wertschätzen, sondern denken, sie würden uns abwerten… Und das tun sie irgendwie auch, denn wir leben in unserer Gesellschaft mehrheitlich diese Werte. Möglichst alt werden und dabei möglichst jung aussehen.
Totaler Blödsinn eigentlich.

Schon mal eine alte Frau oder einen alten Mann angeschaut, der total viele Falten hat im Gesicht und gemerkt, wie schon das aussieht? Ihm oder ihr in die Augen geschaut und berührt gewesen von der Wärme, die diese vielleicht ausstrahlen oder noch tiefer geschaut bis in die Seele? Schon mal zugehört, was so eine Person alles zu erzählen hat? Was sie alles erlebt hat und wieviel Lebenserfahrung in ihr steckt?
Ich weiss… ich finde sowas an andern auch viel schöner als an mir. Es ist gewohnheitsbedürftig zu sehen, wie meine Haaransätze langsam grauer werden und die Falten immer mehr. Und doch muss ich sagen, hässlich finde ich es nicht.

Und dann habe ich über Kintsugi gelesen und das passt einfach so gut zu meinen Gedanken, die ich oben aufgeschrieben habe. Kintsugi ist japanisch und heisst auf Deutsch „Goldverbindung“ oder „Goldreparatur“. Entgegen unserer Art mit sogenannten Unschönheiten oder Fehlern umzugehen, werden diese bei Kintsugi hervorgehoben, sogar betont. Kintsugi ist zum Beispiel eine Art, wie in Japan zerbrochenes Porzellan- oder Keramikgeschirr geflickt wird. Es wird mit einem speziellen Leim aufwändig zusammengeklebt und dann mit Gold- oder auch manchmal Silberstaub betupft. So werden die geklebten Stellen, also die Bruchstellen, hervorgehoben und werden damit nicht zum Makel, sondern zur Zierde. Nicht versteckt und vertuscht, sondern betont und in den Mittelpunkt gestellt.
Schönheit DURCH Fehler und nicht „TROTZDEM schön“.

(Die Kintsugi-Fotos sind aus dem Internet)

Ich finde diese Philosophie wunderschön in einer Welt voller Wegwerf-Artikel, wo nicht zuletzt irgendwie auch wir Menschen dazu gehören…

Für mehr Sätze wie „Ich finde dich genau SO toll“ statt „Ich mag dich trotzdem“.
Für mehr Wertschätzung für all unsere Charaktereigenschaften und für viel weniger Wertung derselben.
Für mehr Gold und Glitzer auf all unseren Rissen und für viel, viel mehr Ehre für all unsere Narben.
Und dafür, dass wir unsere Überbleibsel nach Kämpfen und Siegen und unsere Jahresringe mit Stolz und für alle sichtbar tragen dürfen.

Sowas finde ich schön.

9 Antworten zu „Kintsugi – Schönheit durch Makel”.

  1. […] – dazu gibt es hier einen guten Beitrag. Man kann durchaus auch Haltung und Mensch-sein bewahren, wenn das eigene […]

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  2. Dass „kein Preis mehr gewonnen wird“ damit, das wird durch die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft bestimmt. In anderen Zeiten waren andere Dinge wichtig oder schön. Wer weiss, was in 200 Jahren sein wird?

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  3. Irgendwann wird halt kein Preis mehr gewonnen, mit einem gealterten Gesicht, einem gealterten Körper. Was Schönheit nicht ausschließt, so der ge(f)alterte Mensch mit Herzenswärme gefüllt ist.

    >a href=“https://www.youtube.com/watch?v=hBTNyJ33LWI“>Lied dazu, gerade gefunden 🙂
    Liebe Grüße, Reiner

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  4. Meine Operationsnarben und die Spuren der Zeit sind Trophäen.
    Du hast es wunderbar beschrieben mit diesem Beispiel.

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  5. Dazu fällt mir ein Song von „Eisbrecher“ ein: Tausend Narben.

    Ich finde ja, Narben/Risse sind nur Zeichen, dass man etwas erlebt hat und sie schaden keineswegs der Schönheit. Im Gegenteil: viele unterstreichen sie sogar noch…

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  6. Die Keramikschüsseln sind wunderschön. Ich möchte diese Technik lernen. Liebe Grüße vom gruenen daumen

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  7. Ich habe eine Schale, die mir sehr am Herzen liegt auch so geflickt – zwar nicht mit echtem Gold, sondern nur die Klebestellen vergoldet. Viel mehr achte ich das Stück seitdem!

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Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.

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