Norm(alität)


Auf dieser Erde leben etwas über 7,7 Milliarden Menschen. Keiner ist wie der andere, wir unterscheiden uns im Aussehen, Charakter, Fähigkeiten, Haltungen und vielen anderen Dingen. 7,7 Milliarden Menschen und jeder ist auf seine Weise einzigartig. Irgendwie gleich und doch anders. Ein ganz besonderes Unterscheidungsmerkmal finde ich, ist unser Gefühl, das wir für jemanden haben, denn genau dieses entscheidet wie wir eine andere Person sehen und als Konsequenz davon, wie wir uns ihr gegenüber verhalten.

Also. Mehr als 7,7 Milliarden und wir versuchen uns zu orientieren. An Gemeinsamkeiten. Und an Unterschieden. An Gegensätzen. Und an Übereinstimmungen. Auf Menschen bezogen wird nicht zuletzt auch zwischen normal und… Ja, und was eigentlich? Normal und Unnormal? Abnormal? Nicht normal? – unterschieden.

Normal. Das bedeutet, der Norm zugehörig. Wer definiert diese Norm? Und wofür? Darauf möchte ich nicht eingehen, obwohl ich diese Fragen sehr spannend finde. Es lohnt sich auch, sich diese Gedanken mal zu machen und sich da auch mal zu hinterfragen. Wir sind ja alle da irgendwo drin gefangen, befangen. Es ist nicht nur immer schlecht, begünstigt aber Diskriminierung, finde ich.

Ich möchte mich heute mit Menschen befassen, die aus irgendwelchen Gründen nicht dieser Norm entsprechen bzw einigen davon. Als Sozialpädagogin beschäftige ich mich seit vielen Jahren beruflich mit solchen Menschen. Eigentlich unterstütze ich Menschen dabei, irgendwie in unserer Normalität zurecht zu kommen, ohne ihre eigene zu verlieren.

Ich habe in verschiedenen Berufsfeldern gearbeitet, darüber habe ich bereits des öfteren geschrieben. Die Maschen des unter uns gespannten Netzes dieser irgendwie definierten Norm sind recht lose, scheint mir manchmal. Es ist einfach, da durch zu fallen. Darunter hat es aber noch ein zweites Netz. Ein engmaschiges. Als Berufsfrau bin ich Teil dieses Netzes, zusammen mit vielen andern. Leider muss ich an dieser Stelle sagen, dass es Menschen gibt, die – aus welchen Gründen auch immer – auch durch dieses Netz fallen. Meiner Meinung nach dürfte dies nicht passieren, eine Veränderung dieser Situation liegt jedoch weder in meiner Macht noch in meiner Verantwortung. Ich sehe die Lösung darin, die Maschen enger zu schnüren und alle zusammen diese Netze festzuhalten und auch diese Menschen. Dafür müsste dies für alle ein Anliegen sein, was nicht der Fall ist.

Menschen, die anders sind oder zu sein scheinen, lösen in uns etwas aus. Nicht in allen dasselbe. Aus diesem Gefühl – was ist es? Angst? Unsicherheit? Genervtheit? Ungeduld? Unverständnis? Mitgefühl oder Mitleid? Hilfsbereitschaft? Belustigung? Verwirrung? – entsteht eine Reaktion bzw ein Umgang mit dieser Person.

Mir persönlich ist es wichtig, andere nicht auszugrenzen. Das heisst nicht, dass ich alle und alles gut finde, es heisst aber dass ich zumindest versuche, mich neutral verhalten. Dass behinderte oder zB auch psychisch kranke Menschen verwirrend rüber kommen können, verstehe ich total. Es kann sein, dass sie undeutlich oder komisches Zeugs reden, vielleicht verhalten sie sich distanzloser als es uns beliebt, vielleicht sind sie in ihrem Verhalten unberechenbarer. Vielleicht machen sie schräge Dinge, verhalten sich auffällig oder ungewohnt. Einfach vielleicht nicht immer so ganz der Norm entsprechend. Vielleicht ist es so, vielleicht nehmen wir es aber nur so wahr, weil wir nicht die Möglichkeit haben, zu verstehen.

All das sind eigentlich IHRE Behinderungen. Sie haben zB kognitiv, körperlich und oder emotional nicht dieselben Möglichkeiten wie wir, sie nehmen vielleicht ihr Umfeld anders wahr und können aus diesen Gründen vielleicht nicht oder nur zum Teil zB unser Schulsystem durchlaufen, einen Beruf lernen und dann ihren eigenen Unterhalt verdienen und selbständig wohnen. Ihre Lebensform weicht unter Umständen von der Norm ab. Das macht sie für uns behindert.

Was ich sagen möchte ist, dass ihre Behinderung unter Umständen unsere Unfähigkeit oder Hemmung ist, sich auf sie einzulassen oder ihnen zu helfen zB am Billettautomat oder beim Aussteigen aus dem Zug. Oder ihnen einfach normal zu begegnen. Ist es dann vielleicht sogar unsere Behinderung? Ein bisschen? Es könnte auch normal sein, dass jemand anders ist.

In meiner Arbeit, also in der Betreuung, steht nicht wirklich die Einschränkung dieser Menschen, sondern ihre Fähigkeiten, ihr Potential und natürlich aber auch ihre Grenzen im Mittelpunkt. Und die Lebensfreude und -qualität. Ich erlebe ganz vieles einfach als normal bzw ich überlege mir gar nicht, was normal ist und was nicht, denn es gehört zu meinem ganz normalen Arbeitsalltag. Und natürlich zum Alltag der Menschen, die ich darin begleite. Was viele von uns unnormal finden, ist ihre Normalität.

Ich möchte, dass das Platz hat in unserer Gesellschaft oder halt zumindest in meinem Umfeld. Meine Tochter kennt die Menschen, die ich betreue. Und sie hat einen Onkel mit einer Hirnverletzung und deren Folgen. Mir ist es wichtig, dass sie keine Berührungsängste oder Angst hat. Ich habe es sooo oft gesehen, dass Menschen andere auslachen oder plagen aufgrund einer Behinderung. Das ist etwas, was ich nur sehr schlecht ertragen kann. Meine Meinung ist, dass Wissen und Erfahrung Akzeptanz und Verständnis fördert. Ich möchte, dass für meine Tochter so etwas zur Normalität gehört und das tut es. Wäre ich irgendwo weit oben in einem Gremium, das entscheidet, wie so ein Lehrplan aussehen soll, dann würde der soziale Austausch ganz bestimmt dazu gehören. Es wäre eine riesige Bereicherung auf so vielen Ebenen für die Kinder und alle Beteiligten, wenn sie regelmässig etwas mit behinderten oder zB auch mit alten Menschen unternehmen dürften. Das wäre ein Stück Integration, wenn nicht sogar Inklusion. Denn wenn Normalität auch Abweichungen beinhalten darf, ist das für mich Inklusion.

Das mit der Normalität ist sowieso so eine Sache… Sind wir nicht alle ein wenig abnormal hie und da oder sogar öfter? Na und?

2 Antworten zu „Norm(alität)”.

  1. Ich arbeitete früher einmal als Lehrerin in einer Förderschule für geistige Entwicklung. Fünf Jahre lang wurde eine meiner Klassen in einer Grundschule als Kooperationsklasse untergebracht. Kunst, Sport, Musik und Sachkunde wurde mit unser Partnerklasse gemeinsam unterrichtet. Meinen SchülerInnen fiel schnell auf, dass sie anders und nicht „normal“ waren. Dieses Thema begleitete uns und die Partnerklasse die ganze Schulzeit über. Besonders gerne erinnere ich mich an eine sehr lange und spannende Unterrichtseinheit (im eigenen Klassenverband) mit dem Thema: „Alle sind anders, wir auch!“ Hier bekamen unsere SchülerInnen die Gelegenheit, ihre eigenen Sorgen, Ängste und Gefühle der Minderwertigkeit ein wenig aufzuarbeiten. Ich weiß nicht, ob sie ihr Selbstbewusstsein aufpolieren konnten, zumindest hatten sie viel Freude am Unterricht. Ich habe über eine andere, ähnliche Einheit etwas geschrieben, vielleicht interessiert es Dich. (https://frauholle52site.wordpress.com/2016/09/26/wie-im-unterricht-einmal-ein-ganzes-land-verschwand/)
    Ich denke, nicht nur unsere SchülerInnen haben vom Kooperationsunterricht profitiert, sondern auch die Partnerklasse. Sie besuchten regelmäßig unsere Mutterschule und legten die ersten Berührungsängste schnell ab! Dabei blieben sie ehrlich, wenn sie sich z.B. darüber wunderten, dass unsere SchülerInnen sogar in der vierten Klasse noch nicht lesen konnten. Das überstieg auch mit der jahrelangen Kooperation ihr Verständnis und das äußerten sie auch! Kinder können sehr hart sein. Umgekehrt mussten sie sich von meinen SchülerInnen auch so einiges anhören. Trotzdem entwickelten sich tiefe Freundschaften über die Grenzen der Schulformen hinaus. Ja, es war eine schöne Zeit, auch für mich! Liebe Grüße! Regine

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  2. Danke für den Einblick in deine Welt und deine Gedanken zum Umgang mit anderen Menschen. Da ist eine Lerngeschichte, die du mitbringst, Jahre des Studiums und Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen Menschen. Und mittendrin bist du, geworden, geprägt, gereift. Mit Erfahrungen auf beiden Seiten, Hilfe zu brauchen und zu geben. Ich denke beim Lesen, dass das Wissen um mich und meine Identität, wesentlich ist für die Begegnung mit anderen. Wer mit sich versöhnt ist und um sein Menschsein weiß, kann besser sich auf andere, Normale und Unnormale einlassen. Man kann immer profitieren. Theoretisch zumindest.

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