Es könnte so einfach sein, ne? Man könnte seine Mitmenschen ganz einfach in gut und böse unterteilen, sich an die Guten halten und die Bösen so gut es geht, meiden. Ich glaube, es gibt Menschen, die können das. Das ist recht effizient und zeitsparend und schlussendlich bestimmt auch sehr nervenschonend…
Ich kann das nicht so gut.
Es gelingt mir immer nicht so gut, etwas einfach so schnell abzuschliessen und nicht mehr darüber nachzudenken. Das ist natürlich nicht immer so, aber manchmal schon. Mir ist es irgendwie ein Anliegen, niemanden einfach zu be- und verurteilen bzw zu missbeurteilen. Ich versetze mich in Menschen, überlege „warum?“ und kann so manches nachvollziehen. Das ist nicht immer nur ein Vorteil, es macht vieles für mich komplizierter. Ich glaube, es ist auch nicht einfach, mit mir zu streiten und es fällt mir manchmal schwer, mir eine feste Meinung zu bilden, da ich immer die verschiedenen Aspekte und Seiten auch noch sehe und bekanntlich hat alles seine Vor- und Nachteile.
Ich glaube, ich habe nicht zuletzt in meinem Beruf gelernt, dass man sich ein anderes Bild machen kann, wenn man Hintergründe, Gründe, Motive und Gedankengänge kennt. Bzw dass manches erklärbar ist. Oder zumindest verstehbar oder nachvollziehbar. Gut finden muss man es ja dann nicht, das ist nicht dasselbe wie verstehen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an meinen ersten Job im sozialen Bereich. Das war damals in einem Heim für dissoziale männliche Jugendliche, die meisten von ihnen waren aufgrund einer Jugendstrafe dort. Ziemlich schnell mal erfuhr ich, wer weswegen da war. Das waren verschiedene Straftaten, nichts was easy war. Da kam schon einiges zusammen. Nur so wegen lustig wird niemandem eine Jugendstrafe verhängt, denke ich mal.
Gleichzeitig habe ich diese Jugendlichen kennengelernt, mit ihnen zusammen gearbeitet. Es gab zu dieser Zeit nicht viele Frauen, die in diesem Berufsfeld arbeiten wollten. Ich war in dieser Institution, wenn ich mich richtig erinnere, etwa eine von drei, vier Frauen. Das Klientel war männlich und nicht viel jünger als ich bzw. die Älteren von ihnen waren wohl in meinem Alter.
Das war für mich schon ein harter Einstieg in diesen Beruf. Als erstes habe ich wohl gelernt, mich gut abzugrenzen. Meine Rolle als Sozialpädagogin bzw. damals noch Praktikantin, einzunehmen. Für diese jungen Männer keine Freundin zu sein, sondern eine Betreuerin. Und doch eine Vertrauensperson. Das ist mir gut gelungen und wurde wirklich gut von allen akzeptiert, was sehr geholfen hat.
Als ich diese Jugendlichen kennengelernt habe, wurde mir so vieles klar.
Mir wurde klar, dass man vermutlich so ziemlich jede Person, mit der man so nah zusammen arbeitet, irgendwie gern bekommt. Man lernt so viel über sie, ist total angewiesen auf ihr Vertrauen und ihre Kooperation. Ich hatte in dieser Hinsicht bisher fast immer Glück. Es scheint den meisten Menschen leicht zu fallen, mir zu vertrauen, sich mir anzuvertrauen. Das ist in meinem Beruf wirklich sehr wichtig.
Mir wurde auch klar, dass das ausgeübte Delikt ein Symptom war. Und die Ursache davon lag hinter der Fassade, hinter die ich auch schauen durfte.
Ich habe vermutlich in gar keinem dieser „Fälle“ eine einfache Kindheit oder Familiengeschichte gesehen. Wirklich traurige und erschütternde Ereignisse, fast durchs Band. Schicksale.
Ich erinnere mich sehr gut, wie erschüttert ich oft war und dass ich tatsächlich lernen musste, mit solchem Hintergrundwissen umzugehen. Und ich habe sehr viele Vorurteile abgebaut. Ich würde von mir behaupten, dass ich eine ziemlich vorurteilsfreie Person bin unterdessen.
Etwa in der gleichen Zeit schrieb ich Briefe in die Todeszelle nach Texas. Ich habe davon schon mal geschrieben, es ist schon länger her. Wer dort auf seine Hinrichtung wartete, hat etwas Schlimmes getan. Mord.
Ich habe mit einem Mann geschrieben, er hiess John. Er hat mir nie erzählt, was seine Tat war, er wollte das nicht. Und ich muss sagen, ich war auch nicht scharf darauf, es zu hören. Er hat jedoch nie abgestritten, schuldig zu sein. Ich habe gewusst, dass es irgendwas mit Beschaffungskriminalität war.
Wir haben uns über Jahre hinweg geschrieben. Ich habe geschrieben, was ich immer so mache, habe Fotos von meinen Ausflügen und Erlebnissen geschickt und er hatte ein bisschen weniger zu erzählen. Er hatte eine Frau und zwei kleine Kinder. Als er ins Gefängnis musste, war seine Frau mit dem zweiten Kind schwanger. Er war bei der Geburt nicht dabei, er war im Hochsicherheitstrakt in Huntsville, Texas. Aus gutem Grund, wie ich später mal erfahren würde. Seine Kinder hat er von Zeit zu Zeit mal gesehen, wenn die Frau ihn mit ihnen besucht hat. Das war wohl nicht so oft der Fall.
Irgendwann kam dann kein Brief mehr und ich habe in der Zeitung gelesen, dass er hingerichtet wurde. Er hat darauf mehr als zehn Jahre „gewartet“.
Das ist viele Jahre her. Ich habe vor einigen Jahren in meiner Erinnerungskiste gekramt und Fotos von ihm und auch von seiner Familie wieder gefunden und habe ihn gegoogelt. Wider Erwarten habe ich viel gefunden, sogar einen detaillierten Gerichtsbericht. Und dann habe ich erfahren, welche Tat er begangen hat. Viel zu sehr im Detail, ich fand es schrecklich. Mehrfacher, bestialischer Mord, um an Geld zu kommen für Drogen…
Der Mann, der diese Tat begangen hat und der Mann, mit dem ich geschrieben habe, das war ein und dieselbe Person, was kaum zu glauben war…
Warum ist er so geworden?
Was ich mich unterdessen – als Mama – auch noch frage ist, was ist aus seiner Frau und aus seinen Kindern geworden? Damals habe ich mich dafür nicht wirklich interessiert, ich habe nicht mal dran gedacht. Heute würde ich mit ihnen auch Kontakt aufnehmen, um ehrlich zu sein und es würde mich interessieren, wie es ihnen geht. So wie es mich auch interessieren würde, was aus den Jugendlichen im Jugendheim geworden ist. Oder aus den Kindern, mit denen ich gearbeitet habe. Unterdessen sind sie alle erwachsen und ich werde es nie erfahren…
Was ich mit diesen Erzählungen sagen will ist, dass wir alle ein Motiv haben für das, was wir tun. Alles, was wir tun. Das muss nicht gleich Mord oder eine andere Straftat sein, sondern einfach alltägliche Dinge. Wir sehen immer nur das Symptom, das sichtbare Zeichen. Die äusserlichen Zeichen. Verhaltensweisen. Gesagtes.
Es geht ja hier nur am Rand um das, was ich gerade beschrieben habe. Am Anfang ging es um gut und böse. Um schwarz und weiss. Dieser John zum Beispiel, der ein altes Ehepaar getötet und ausgeraubt hat. Ein Mörder. Ein böser Mensch. Und doch hatten andere ihn lieb.
Ich hatte mal eine Chefin, die für ihre Position nicht geeignet war und es dauerte ziemlich lange, bis die Geschäftsleitung dies erkannte. Diese Frau hat dem Team das Leben sehr schwer gemacht, eine schreckliche Zeit. Ich habe deswegen dann gekündigt damals. Es war unmöglich, sie aufgrund ihres Verhaltens sympathisch zu finden. Fachlich inkompetent, Lügen, sowas halt… Und doch gibt es bestimmt Menschen, die diese Person, die ich so unmöglich fand, lieb haben und schätzen.
Auch gute Menschen tun böse oder falsche Dinge. Und auch böse Menschen sind nicht nur böse, tun liebe Dinge und werden geliebt. Es gibt keine ausschliesslich guten oder ausschliesslich bösen Menschen (obwohl ich das mit Vorbehalt sagen möchte, denn es gibt meiner Meinung nach schon Menschen, die Dinge tun, die so schrecklich sind, dass man da nichts Gutes mehr sehen kann.). Mehrheitlich gibt es einfach Menschen. Menschliche Menschen. Das beinhaltet die ganze Palette von gut bis böse, von schwarz bis weiss. Dazwischen liegt ein Regenbogen voller bunter Farben, eine unerschöpfliche Vielfalt. Das macht unter anderem das Mensch-Sein aus, dieses vielseitig sein.
Unsere Einstufung nach gut und böse erfolgt nach gesellschaftlichen Normen und vor allem auch subjektiv nach unserer persönlichen Meinung, die von vielen Einflüssen gelenkt wird. Äussere sowie innere.
Vielleicht ist es auch gar nicht immer notwendig, sich ein Urteil zu bilden.
Ich fände es oft ziemlich interessant zu wissen, warum Menschen sind wie sie sind. Nicht nur in besonderen Extremfällen wie oben geschildert, sondern auch einfach im normalen Leben, bei normalen Menschen.
Warum ist diese Frau kühl und unnahbar?
Wieso ist der alte Mann vom Haus am Ende der Strasse immer so mürrisch?
Was ist mit Menschen passiert, die keine Schamgefühle und Grenzen mehr zu besitzen scheinen?
Weswegen ist dieser Mann nicht gern in geschlossenen Räumen?
Warum sagen viele, sie mögen andere Menschen nicht?
Wieso findet er es schwer, zu vertrauen?
Warum wurde aus diesem jungen Mann ein Brandstifter?
Was ist passiert, dass diese Frau drogensüchtig wurde?
Warum geht der Mann einer Bekannten fremd?
Warum ist es für ihn einfacher, das Negative zuerst zu sehen und das Positive zu übersehen?
Warum redet sie so schlecht über andere Frauen?
Wieso scheint diese Frau immer so müde zu sein?
Jeder Mensch ist nicht nur das Produkt seiner Geschichte, er IST seine Geschichte. Er ist aber auch seine Zukunft und hat die Möglichkeit, daran mitzuformen.
Und vielleicht sollten wir uns lieber darauf konzentrieren, selbst gute Menschen zu sein, statt bei andern zu schauen. Gute Menschen sind nicht hässlich zu andern. Und andere zu schubladisieren und als „schlechte Menschen“ abzustempeln, das ist definitiv hässlich, finde ich.
Ich zitiere zum Abschluss den @SonsOfGandalf (Twitter):
Du darfst dich jederzeit dazu entscheiden
ein guter Mensch zu sein. Einfach so.
Recht hat er.
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