Die wichtigste Person in meinem Leben ist Autistin. Meine Tochter.
Seit fast zwei Jahren wissen wir, dass sie Autistin ist.
Das heisst, zwölf Jahre ihres Lebens haben wir nichts von ihrem Autismus gewusst, aber sehr wohl von ihren Bedürfnissen.
Wenn ein Kind nicht sogenannt altersgemässe Mainstream-Bedürfnisse hat , sondern andere oder vielleicht mehr Begleitung braucht in gewissen Dingen, dann finde ich es wichtig, dass man es ihm gibt. Egal ob es eine Diagnose hat oder nicht. Natürlich gut reflektiert und bewusst.
Wenn ein Kind mehr Begleitung braucht in gewissen Situationen oder Dingen, dann wird man ganz schnell als Mutter angezweifelt und beurteilt. Man wird für schuldig gesprochen und das von einem Gericht voller Vorurteile und Unwissen. Vor allem dem Unwissen darüber, dass es sie einen Scheiss angeht.
Meine Tochter war immer ein zurückhaltendes und auch oft ein ängstliches Kind. Sie brauchte für neue Dinge oftmals mehr Zeit als andere Kinder und auch mehr Begleitung darin. Ich hab ihr das gegeben, aber auch immer ausprobiert, was schon alleine geht. Ich bin nicht überbemutternd oder kann nicht loslassen. Dennoch bin ich mir sehr bewusst, dass mir diese Attribute wohl sehr oft zugeschrieben wurden. Bis jetzt. Ich musste es immer wieder wieder hören. Sie hat Mühe mit Übergängen, weil ich als Mutter Mühe habe. Sie traut sich das nicht, weil ich als Mutter sie nicht machen lasse.
Ich habe oft an mir gezweifelt. Meine Fähigkeiten als Mutter angezweifelt. Nicht gewusst, was ich falsch mache. Nicht gewusst, was ich anders machen müsste. Wenn man es immer wieder hört, glaubt man es irgendwann auch selber.*
Ich finde es etwas sehr schlimmes, zu beurteilen, einfach so aus Boshaftigkeit oder aus welchen Gründen auch immer. Ich finde es etwas sehr schlimmes, zu beurteilen und damit total falsch zu liegen. Jemandem total Unrecht zu tun.
Warum möchte man es jemandem, der gerade struggelt, noch ein bisschen schwerer machen? Es macht für mich keinen Sinn. Und doch erlebe ich es immer wieder. Nicht nur bei mir persönlich, auch bei andern.
Ich glaube, auch heute noch, mit der Diagnose, denken einige, ich hätte einfach in der Erziehung vieles falsch gemacht und mein Kind schlecht erzogen.
Ich weiss, dass es Unwissen ist oder Unvermögen, sich hinein zu versetzen.
Ich weiss auch, dass meine Tochter genau aus diesen Gründen gemobbt wurde von den Kindern ihrer Klasse und auch von der damaligen Schulleitung. Aber entschuldigt Unwissen und Desinteresse es, andere Menschen so zu behandeln? Was hindert einem denn daran, sowieso wohlwollend zu sein? Lösungsorientiert?

Ich glaube ich bin richtig mit der Annahme, dass alle Eltern möchten, dass ihr Kind nicht gemobbt wird, weil man weiss, dass dies Kinder (oder auch Erwachsene) sehr kaputt machen kann. Psychische Erkrankungen, Angststörungen, Traumata, die man oft ein Leben lang nicht mehr ablegen kann. Das ist auch schlimm. Wir denken ganz oft, dass es einfach schlimm ist, wenn sich jemand das Leben nimmt. Das ist unfassbar schlimm. Aber einen Menschen schon als Kind psychisch kaputt zu machen, DAS ist verdammt noch mal auch schlimm. Aber es interessiert eigentlich niemanden, weil es nicht thematisiert wird. Das trauen sich Menschen nicht zu thematisieren.
Aber wie ist denn das umgekehrt?
Eltern interessiert es natürlich viel mehr, wenn ihr Kind zum Opfer wird. Wenn ihr Kind ein:e Täter:in ist, es es ja am längeren Hebel, ihm wird nichts angetan und so ist es Eltern egal. Wegschauen ist bequemer. Soviel ich weiss, wird das Wegschauen bereits sehr oft an der Front, also dort wo das Mobbing passiert, praktiziert und die Information kommt gar nicht erst zu den Eltern.
Aber wie ist es für diese Eltern, dass ihr Kind dabei beteiligt war, ein Kind sehr krank zu machen? Mit Absicht? So wie zusammenschlagen, auf die Zuggleise stossen oder vors Auto, aber psychisch, also nicht sichtbar? Und wie ist es für die Kinder? Überlegen sie sich das überhaupt?
Wie ist es für diese Eltern und ihre Kinder, wenn sich so ein Schulkind umbringt?

Klingt übertrieben? Ist es nicht, das kann ich dir versichern. Das passiert.
Und man könnte es tatsächlich verhindern.

Bei Autist:innen ist das Selbstmord-Risiko viel, viel höher als bei andern Menschen. Auch das Risiko, psychisch zu erkranken, zB an Depressionen oder Angststörungen, ist viel, viel höher als bei andern. Das ist nicht, weil sie einfach so veranlagt sind. Es ist, weil sie mit vielen Dingen. umgehen müssen, mit denen wir nicht oder viel weniger konfrontiert werden. Zum Beispiel Mobbing, wie erwähnt. Und natürlich auch, weil sie wahnsinnig viel Anpassungsleistung bringen müssen, um zurecht zu kommen. Da spielen viele Faktorn mit. Einer davon sind WIR. Ja.

Es ist aber nicht so, dass ich nur schlechte Erfahrungen mache. Es sind einige, leider. Aber es sind sehr viele sehr gute Erfahrungen dabei. Ich versuche, diese immer in meinen Mittelpunkt zu stellen. Und dennoch finde ich es wichtig, auch die andern zu thematisieren, denn wenn man Unwissen als Grund für Fehlverhalten angibt, dann ist es doch wichtig, darüber zu sprechen.

Mir hat eine Mutter mal gesagt „Wir züchten nicht Opfer heran, sondern Täter“. Dieser Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe gemeint, sie mache einen Scherz, später habe ich aber dann gemerkt, dass das schon ernst gemeint war.
Wir sprechen so oft von Opfern und Täter:innen. Aber wünschenswert wäre es doch, wenn man sich irgendwo dazwischen bewegen könnte. Es braucht keine Täter:innen und wenn es sie nicht gäbe, gäbe es auch keine Opfer. Gewalt ist keine adäquate Beschäftigung, um Langeweile zu vertreiben, sich zu unterhalten oder seine eigenen Murkse zu kompensieren. Wirklich nicht.

Ich habe jetzt fast nur von mir und meinen Gedanken gesprochen. Ich möchte hier einfach nicht zuviel über mein Kind schreiben. Deswegen aus meiner Sicht.
ICH bin nicht neurodivers. Glaube ich zumindest. Und doch erlebe sogar ich wirklich viel Unverständnis und auch Diskriminierung. Wieviel davon erleben denn wohl Menschen, die direkt betroffen sind?

Mich beschäftigt und interessiert das Thema Mobbing und Autismus wirklich sehr, denn nach wie vor erklärt das sogenannte Anders-Sein das Mobbing und relativiert es auch. Als sei es okay. Es ist aber nicht okay.

Autismus ist nichts schlimmes. Wirklich nicht.
Und wenn etwas schlimm ist daran, dann weil das Rundherum es schwierig macht… siehe Zitat im Bild am Schluss.

*Übrigens kann ich heute sagen, dass ich finde, dass ich alles genau so richtig gemacht habe, wie all die andern Mütter auch. Es ist genau richtig, wie es ist.

Ich möchte dazu beitragen, dass sich diese Dinge ändern. Ich möchte das nicht nur, das werde ich. Bin schon dabei.

Hinterlasse einen Kommentar

About Me

Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.