Mein kleiner Vogel


Eine fiktive Geschichte mit realem geschichtlichem Hintergrund.

1934

Ich nannte ihn meinen kleinen Vogel. Einfach, weil er so zart war, mit seinem dünnen Hals, den feinen Fingern und seinen wunderschönen dunklen, neugierigen Augen. Jakob war mein einziges Kind. Als er zur Welt kam, war es, als hätte mir jemand ein ganz warmes Licht ins Herz gelegt.

Irgendwann merkte ich, dass seine Entwicklung anders war als bei den Kindern in meiner Umgebung. Er sprach spät. Er fing noch später an mit Gehversuchen. Aber er lachte, wie sonst niemand. Viel und laut und manchmal hörte er damit nicht mehr auf. Die Nachbarn schüttelten manchmal die Köpfe, wenn er mit seiner etwas unbeholfenen Art durch den Hof lief, stolpernd und halb hüpfend.

Mich störte das nicht. Er war mein Sohn und ich fand, dass er toll ist, wie er ist. Ich habe mir nicht so viele Gedanken gemacht, sondern ihn einfach normal gefunden wie er war und ihn geliebt.

Doch im Jahr 1941, als Jakob sieben war, veränderte sich von einem Tag zum andern alles. Es begann mit einem Brief. Es war ein Aufruf zur „Meldung von geistig und körperlich behinderten Kindern“. Ich zerriss ihn.
Kurze Zeit später kam ein zweiter. Ich zerriss auch diesen.

Als die Meldefrist abgelaufen war, kamen zwei Männer in Uniform. Sie sagten, Jakob müsse in eine Klinik für Kinder wie ihn. Dort würde man ihm helfen, ihn fördern und mich „entlasten“. Das wollte ich nicht. Jakob sollte in seinem Zuhause aufwachsen können. Bei seiner Familie. Ich habe gekämpft, gebettelt, geschrien, geweint, ihn fest an mich gedrückt. Es half nichts.

Sie haben ihn mitgenommen. Ihn mir aus den Armen gerissen. Jakob hat geschrien und geweint. Ich auch…
In einem Auto, das aussah wie ein Lieferwagen, fuhren sie mit ihm davon. Ich durfte nicht mit. Ich durfte auch nicht wissen, wohin sie ihn bringen.
An diesem Tag wurde mir nicht nur mein Kind entrissen, mir wurde auch mein Herz für immer gebrochen.

Wochenlang schrieb ich Briefe, unzählige. Ich versuchte, herauszufinden, wo Jakob hingebracht wurde, leider ohne Erfolg. Ich wollte mein Kind zurück oder es zumindest besuchen, ihn nicht alleine lassen. Ich erhielt nie eine Antwort.
Dann eines Tages lag ein dünner Umschlag im Briefkasten. Der Absender war die „Heilanstalt Sonnenhof“. Ich zitterte, als ich ihn öffnete.

Ich wurde im Brief darüber informiert, dass Jakob an einer Lungenentzündung gestorben ist.
Ich wusste, dass es gelogen war. Wir waren nicht die einzigen, die dies erlebt haben. Solche Erzählungen machten mehr und mehr die Runde. Kinder und auch Erwachsene mit einer Behinderung wurden von zuhause unter Gewalt weggebracht und verstarben kurze Zeit später, ohne dass jemand sie nochmal gesehen hätte.

Ich wusste, dass Jakob kein Platz in dieser Welt mehr hatte, weil er behindert war. Weil er anders war als andere, sogenannt normale Menschen. Deswegen wurde er mit 200.000-300.000 anderen behinderten und psychisch kranken Menschen getötet. Sie nannten es „Euthanasie-Programm“.

Jakob ist im Alter von sieben Jahren gestorben. Nein. Getötet worden. Er hat kein Grab, das ich besuchen könnte. Keinen Grabstein. Kein Foto aus der Klinik. Nur sein kleines Holzvögelchen, das er mir einmal gebastelt hat und meine Erinnerungen an ihn. Ich lege es jeden Abend auf mein Kopfkissen. Und wenn ich die Augen schliesse, höre ich ihn manchmal noch lachen, fühle wie er seine Arme um meinen Hals schlingt und seine Wärme. Meine warmen Tränen, die über mein Gesicht rinnen…

Anmerkung:
Diese Geschichte ist nicht real, aber sie steht für viele reale Geschichten. Während des NS-Regimes wurden tausende Kinder mit Behinderungen als „lebensunwert“ betrachtet. Sie wurden in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten ermordet, unter dem Deckmantel der Medizin.
Diese Verbrechen dürfen niemals vergessen werden, denn jeder Mensch hat ein Recht auf Leben, auf Schutz und auf Liebe.

Alle und immer und überall auf der Welt.
Wir dürfen dieses Recht nicht gefährden.

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About Me

Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.