
(Worte, die mit * gekennzeichnet sind, werden am Schluss erklärt.)
Es gibt Menschen, deren Leben uns mehr lehren kann als jedes Geschichtsbuch. Es lohnt sich, darüber zu lesen oder zuzuhören. Margot Friedländer ist eine von ihnen. Eine Frau, die den Holocaust* überlebt hat und sich daraus eine Lebensaufgabe gemacht hat: Davon zu erzählen mit dem Anliegen, uns zum Hinschauen, Zuhören, Erinnern zu bewegen oder einfach auch, um das Vergessen zu verhindern. Und wenn sie erzählt hat, dann fand ich das wirklich sehr eindrücklich. Es lohnt sich, mal irgendwo hineinzuhören.
Geboren wurde Margot Friedländer 1921 in Berlin. Sie war Jüdin, Tochter einer Schneiderin und eines Kaufmanns. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, veränderte sich ihr Leben zuerst langsam, dann immer schneller. Die Repressionen** wurden Alltag. Margot durfte nicht mehr zur Schule, keine Kinos oder Cafés mehr besuchen, weil sie Jüdin war. Dies geschah im Rahmen der systematischen Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Menschen. Ab 1933 erliessen die Nationalsozialisten zahlreiche antisemitische Gesetze, die Jüdinnen und Juden nach und nach alle Rechte nahmen.
Margots Welt wurde Schritt für Schritt immer enger, dunkler und sehr, sehr gefährlich.
1943 wurde ihre Familie zerrissen. Ihre Mutter und ihr Bruder Ralph wurden deportiert und später in Auschwitz ermordet. Margot tauchte unter. Alleine. Sie lebte mit falschem Namen, mit gefälschten Papieren, sie färbte sich die Haare, um nicht erkannt zu werden. Um nicht jüdisch auszusehen. Mehr als ein Jahr lang gelang es ihr, sich zu verstecken.
Doch im April 1944 wurde sie von einer anderen Frau, die sich ebenfalls versteckte, verraten. Sie wurde daraufhin von der Gestapo auf offener Strasse verhaftet und wurde zuerst im Gefängnis verhört und danach ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.
Sie überlebte. Unter anderem darum, weil das Lager im Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Anders als Millionen andere Jüdinnen und Juden, die dort getötet wurden.
Nach dem Krieg wanderte sie in die USA aus. Sie sprach Jahrzehnte lang nicht über ihre Vergangenheit. Erst im hohen Alter kehrte sie nach Deutschland zurück, um ihre Geschichte zu erzählen. Wenn ich mich richtig erinnere, war sie damals bereits über 90.
Vor Schulklassen, in Gedenkstätten, in Talkshows und auch in ihrem Buch „Versuche, dein Leben zu machen“ usw. Das waren übrigens die letzten Worte, die ihre Mutter ihr ausrichten liess, als sie mit dem Bruder von Margot in ein Konzentrationslager gebracht und dort getötet wurde. Persönlich verabschieden konnten sie sich nicht.
Sie sprach nicht, um Schuld zuzuschreiben. Sie sprach, damit wir nicht vergessen, damit wir hinschauen, wenn Ausgrenzung passiert. Damit wir verstehen, dass Menschlichkeit keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine Entscheidung. Ich fand es sehr interessant, eindrücklich und erschütternd, zuzuhören.
„Ich bin nicht zurückgekommen, um euch ein schlechtes Gewissen zu machen, ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen.“
Diese Haltung, die voller Mut, voller Hoffnung, voller Würde war, hat mich berührt und auch beeindruckt. All das von einer Frau, die Gründe genug gehabt hätte, gebrochen, zerbrochen und voller schlechter Gefühle zu sein. Margot Friedländer erinnerte uns daran, wie wichtig es ist, sich für das Gute zu entscheiden und nicht nur das, sondern sich auch noch dafür einzusetzen, Haltung zu leben. Jeden Tag neu. Für Respekt. Für Vielfalt. Für Zivilcourage. Und auch dafür, Geschichte nicht zu verdrängen, sondern ihr Raum zu geben. Immer auch in der Hoffnung, das solches sich nicht mehr wiederholen möge…
Margot Friedländer ist am 9. Mai 2025 gestorben, 103 Jahre alt.
Eine Frau, die wahnsinnig viel erlebt hat.
Wahnsinnig viel überlebt hat.
So wie alle, die so alt werden, aber noch viel, viel mehr dazu.
„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was passiert ist. Aber ihr seid verantwortlich dafür, dass es nicht wieder passiert.“
Diese Worte tragen weit.
Und sie passen in unsere Zeit, vielleicht mehr denn je.
https://podcasts.apple.com/ch/podcast/betreutes-f%C3%BChlen/id1478101145?i=1000708195815
*Holocaust (englisch) oder Schoa wird der Völkermord bezeichnet, den das deutsche NS-Regime während des Zweiten Weltkriegs an rund zwei Dritteln aller damals lebenden europäischen Juden, insgesamt 5,6 bis 6,3 Millionen Menschen, beging.
**Repression: (gewaltsame) Unterdrückung von Kritik, Widerstand, politischen Bewegungen, individueller Entfaltung, individuellen Bedürfnissen.


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