Mein Tag als Libelle


„Die Natur
braucht sich nicht anzustrengen,
bedeutend zu sein.
Sie IST es.“
Robert Walser

Wenn ich eine Libelle wäre, würde mein Tag ganz früh im silbernen Glanz der Morgensonne beginnen. Ich würde meine zarten, fast durchsichtigen Flügel in die warme Luft halten, sie leicht zittern lassen und spüren, wie Licht und Wind mich tragen. Kein Lärm, kein Kalender, nur mein Summen und die leise Welt unter mir…

Ich wäre leicht. So wie eine Feder. Leichter als jeder Gedanke, den ich jemals denken musste. Ich würde über Wasser tanzen, nicht um zu landen, sondern um dessen kühlen Hauch zu spüren.
Ich würde mich nicht fragen, ob ich genug bin. Genug klug. Genug schön. Genug gut. Genug freundlich. Genug tüchtig. Genug glücklich. Genug angepasst. Genug rebellisch. Genug fit.
Ich wäre einfach da. Genug. Von allem.

Mein Blick würde in alle Richtungen schweifen. Libellen sehen ja alles. Auch das, was man übersieht, wenn man es eilig hat. Eine Schnecke im Gras. Ein Tropfen Tau auf einem Blatt. Ein Käfer, der sich windet, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich würde kurz anhalten, mit flatternden Flügelchen zusehen, wie er es schafft. Hoffen, DASS er es schafft.

Vielleicht würde ich bei einem Seerosenteich eine Pause machen. Ich würde mich auf einem Blatt niederlassen, mein Spiegelbild betrachten und denken: So sehe ich also aus. Schön!! Und dann weiterfliegen. Denn Libellen verweilen nie lange, sie sind immer in Bewegung.

Am Abend, der Himmel orange und violett am Horizont, würde ich höher steigen, die Farben in meinen Flügeln sammeln und sie im letzten Sonnenlicht tanzen lassen. So wie ein Abschiedsgruss an einen Tag, der wie kein anderer war.

Und wenn die Nacht kommt, würde ich nicht schlafen, wie Menschen es tun. Ich würde still in einem Schilfrohr sitzen, Flügel an Flügel gefaltet und darauf warten, morgen wieder ein Mensch zu sein, gefangen in der Hektik des Menschen-Daseins…

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About Me

Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.