Die Frau am Fenster


Im Herzen eines kleinen Städtchens stand ein Haus mit einem grossen, runden Fenster. Wer daran vorbeiging, konnte ganz oft eine junge Frau dahinter sitzen sehen. Sie hatte wunderschöne, kupferrote Locken, trug bunte Kleider und schien immer tief in Gedanken zu sein. Ihr Lächeln liess einen denken, sie würde vielleicht ein Geheimnis kennen, das die Welt ein bisschen schöner machte.
Jeden Morgen sass sie dort und stickte an einem grossen Tuch. Bunte Fäden glänzten in der Sonne und oft sah man kleine Vögel, die sich auf dem Fenstersims niederliessen, als wollten sie ihr Gesellschaft leisten. Die Frau guckte manchmal zu ihnen auf und es schien, als würde sie den Mund bewegen, um freundlich und ganz leise mit ihnen zu sprechen. Sie liess sich aber nie von den vorbeigehenden Menschen ablenken, beachtete sie kaum.

Die Leute im Städtchen wussten wenig über diese junge Frau. Und sie erzählten sich Geschichten über sie.
Manche sagten, sie stamme aus einem fernen Land.

Einige erzählten, sie wäre verwunschen oder gar eine Fee oder eine Hexe.
Einige dachten, sie spreche in einer fremden, noch nie gehörten Sprache.
Andere flüsterten, sie könne Wünsche erfüllen, wenn man nur mutig genug sei, sie darum zu bitten.
Ja, die Leute im Städtchen fanden sie sehr, sehr geheimnisvoll.

Eines Tages stand die kleine Mia vor dem Haus. Sie hatte von all den Geschichten gehört und sich vorgenommen, selbst nachzusehen. Ihre Schuhe knirschten auf dem Kiesweg, als sie sich langsam dem Fenster näherte.

»Hallo?«, rief sie zaghaft.
Die Frau am Fenster blickte auf und lächelte so freundlich und strahlend, dass Mia all ihre Angst vergass.
„Komm nur näher“ sagte sie mit einer Stimme, die klang, als würde der Wind ein Glockenspiel sachte bewegen. So hell und lieb. Tatsächlich würde es einen nicht wundern, wenn man davon verzaubert würde.

Mia trat näher und schaute auf das grosse Tuch, an dem die Frau gerade stickte. Es zeigte eine Landschaft. Grüne Wiesen, leuchtende Blumen, funkelnde Bäche. Farben, als wären sie nicht von dieser Welt, so schön.

Und als Mia genau hinsah, bemerkte sie, dass sich das Bild ganz leicht bewegte, als würde ein echter Wind durch die Fäden wehen. Mia schüttelte den Kopf und blinzelte…
“Was ist das?“ fragte sie staunend.
„Es ist eine Karte“ sagte die Frau. „Eine Karte zu den kleinen Wundern der Welt. Wer sie ansieht, kann sie finden. Aber nur, wenn er / sie an Magie glaubt.“

Mia strahlte. Sie glaubte ganz fest an Magie, schon immer!

Die Frau überreichte ihr eine kleine Stickerei, nicht grösser als ihre Handfläche. Darauf war eine winzige Brücke über einen Bach gestickt.
„Fang hier an“ sagte sie zu Mia.

Und so begann für Mia ein grosses Abenteuer. Das Abenteuer zu den kleinen Wundern der Welt. Solange sie an Magie glaubte, würde sie den Weg zu den unendlichen Welten ihrer Fantasie und zurück immer wieder finden.

Und jedes Mal, wenn sie im Städtchen an dem Haus vorbeikam, winkte sie der Frau am Fenster fröhlich zu und diese lächelte zurück.

(Und vielleicht bin ich Mia. Oder du bist es. Wer weiss das schon so genau…)

Bilder: ChatGPT

Hinterlasse einen Kommentar

About Me

Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.