Symptome bekämpfen löst keine Probleme


“Nicht die Patienten kommen zu uns,
sondern ihre Opfer.”

Diesen Satz habe ich vor kurzem gelesen. Er stammt von einem Psychologen und er hat mich sehr berührt. Vielleicht auch deshalb, weil ich wirklich finde, dass das genau stimmt und auch, dass das ein grosses Problem ist.

Es ist ja sehr oft so, dass Täter:innen sich oder ihre Taten nicht hinterfragen müssen, weil ihr Verhalten immer noch zu oft akzeptiert und toleriert wird. Deswegen sind das dann auch nicht diejenigen, die therapeutische Hilfe bekommen, sondern es sind ihre Opfer. Die Menschen, die durch ihr toxisches Verhalten Schaden erlitten haben und krank gemacht wurden.
Dass Täter:innen in Wahrheit sehr offensichtlich krank und / oder tief verletzt sind, wird oft nicht gesehen. Vielleicht auch deshalb, weil ihr Verhalten genau jenen Mustern entspricht, die in einer patriarchalen Gesellschaft als „normal“ gelten: Dominanz, Abwertung, Kontrolle.

Das heisst nicht, dass alle Menschen mit psychischen Belastungen Täter:innen werden. Es heisst auch nicht, dass alle Menschen mit psychischen Erkrankungen Opfer sind. Wirklich nicht. Es gibt für verschiedenes noch andere oder keine Gründe. Ich bin mir aber sehr sicher, dass es zuviele sind und dass ganz vieles verhindert werden könnte, wenn man keine Symptombekämpfung machen, sondern das eigentliche Problem erkennen und behandeln würde.

Es gibt Menschen, die ihre eigene Geschichte, ihre Verhaltensmuster nie anschauen. Ihre Verletzungen. Ihre Angst. Ihre Wut. Und diese ungeheilten Anteile können dann plötzlich im Alltag auftauchen: in Beziehungen, in Familien, in der Arbeit.
Manchmal ganz laut. Und manchmal ganz leise.

Gerade zB beim Thema Mobbing sehe ich das sehr deutlich. Es wird so oft ausschliesslich mit den Betroffenen gearbeitet. Mit denen, die verletzt werden. Sie bekommen (wenn sie Glück haben) Unterstützung, müssen lernen sich selbst zu verteidigen und zu wehren. Man sucht nach Gründen, warum sie zum Opfer geworden sind und stellt sie als „schwach“ und als „Angriffsfläche“ dar. Ganz oft müssen sie den Ort verlassen, sie gelten als das „Problem“.
Aber mit denjenigen, die ausgrenzen, herabsetzen oder systematisch andere unter Druck setzen, geschieht oft wenig bzw wenn wir ehrlich sind, eigentlich meistens ja gar nichts. Niemand fragt dort nach, warum sie zum Täter / zur Täterin geworden sind. Dabei wären genau sie es, bei denen man unbedingt genauer hinschauen müsste. (Das ist jetzt wieder der Link zu den patriarchalen Verhaltensmustern, die als normal gelten und deswegen nicht hinterfragt werden).

Für mich ist das wie eine Symptombekämpfung: Man versucht, den Schaden zu begrenzen, statt die Ursache zu verstehen. Den Ball flach zu halten und möglichst wenig Aufwand betreiben zu müssen.
Und so geht das Verhalten weiter, immer weiter, immer wieder auf neue Menschen übertragbar. Es wäre so viel sinn- und wirkungsvoller, mit den Täter:innen zu arbeiten. Nicht um sie zu bestrafen, sondern um zu verstehen: Was fehlt dir? Was schreit in dir so laut, dass du andere klein machen musst? Und vor allen Dingen, um dieser Person zu ermöglichen, sich ohne Gewalt an anderen gut fühlen zu können und damit weitere Gewalttaten und Opfer zu verhindern. Denn das ist doch auch krass, findest du nicht?

Es ist schwer, sich dem eigenen Schmerz zu stellen. Es braucht Mut. Aber wenn wir das nicht tun, dann tragen andere ihn mit oder für uns aus. Und sozusagen immer sind das Menschen, die nichts davon verdient haben. Die Partnerin. Das Kind. Die Freundin. Der Arbeitskollege. Wer auch immer: das nächste Opfer.

Ich finde, es ist wichtig, darüber zu sprechen. Ohne Schuldzuweisungen, sondern mit dem Wunsch, etwas zu verändern. Heilung beginnt immer mit einem ehrlichen Blick nach innen. Und manchmal eben auch mit dem Mut, Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst, für sein Verhalten, aber auch für seine Kinder.
Und ich finde, es ist auch wichtig, etwas zu ändern.
Es ist höchste Zeit, patriarchale Wertvorstellungen zu überdenken und zu verändern, denn sie sind für niemanden gesund.

Hinterlasse einen Kommentar

About Me

Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.