
Auf einem alten Schreibtisch, unter einem Stapel vergilbter Papiere und halb ausgetrockneter Farbtöpfchen lag ein kleines, fast vergessenes Bild. Die Linien waren fein und schwungvoll gezeichnet und die zarten Blütenblätter leuchteten noch immer in einem kräftigen rot. Es war eine Blume – eine, wie sie nur in Träumen wachsen konnte. Der Stengel war ein wenig krumm, kein Blatt perfekt. Und doch war sie wunderschön.
Jemand hatte sie vor langer Zeit gemalt. Vielleicht aus Freude. Vielleicht, um sich zu trösten. Vielleicht aus Langeweile. Oder als Geschenk. Vielleicht einfach nur, weil sie / er Blumen liebte. Doch dann war das Leben dazwischengekommen. Arbeit, Kummer, Liebe, Erlebnisse, neue Interessen. Und die Blume blieb allein und vergessen zurück.
Aber etwas war anders an dieser Blume. Denn in ihr wohnte ein kleines Herz. Kein echtes, nur ein gezeichnetes, versteckt zwischen den Linien. Doch es schlug. Ganz leise. Und es wünschte sich seit sehr, sehr langer Zeit nur eines: Gesehen zu werden.
Und eines Nachts, als der Mond sein silbernes Licht durch das Fenster warf, traf ein einzelner Lichtstrahl das Papier. Der Schatten des Fensterrahmens bildete einen Kreis um die Blume. Genau in diesem Moment öffnete sie langsam ihre Augen.
„Bin ich… da?“, flüsterte sie.
Niemand antwortete. Nur der Wind raschelte in den Pinselhaaren, des Pinsels, der noch immer neben ihr lag.
Doch die Blume spürte es: Sie war lebendig. Eine richtige Blume.
Und während draussen die ersten Vögel zu singen begannen und das Licht des neuen Tages langsam in den Raum kroch, lag die Blume still auf dem Papier, aber nicht mehr gezeichnet, sondern ganz echt.
Ihre Blütenblätter zitterten leicht im Morgenwind.
Sie wusste: Wenn dann endlich jemand in den Raum kommt und sie anschaut, würde er / sie es merken und sie bestaunen.
Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen.
Sie lebte.



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