
Stell dir vor, du würdest aufwachen und es wäre Frühling 1995. Die letzten dreissig Jahre waren nur ein Traum…
Obwohl ich finde, dass alles okay ist wie es ist – jetzt im Jahr 2025 -, war bis zum Frühling 1995 tatsächlich mein Leben noch ohne grössere Katastrophen geblieben.
3. April 1995
Ich wohne noch mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder zusammen und arbeite als Typografin in einer Druckerei in der Gegend. Dort bilde ich die Lehrlinge aus, was mir gut gefällt.
Ich bin in meiner Freizeit viel unterwegs mit Freundinnen und es geht mir gut. Dies wird sich schon in weniger als zwei Wochen ändern.
Am Ostersonntag, 16. April klingelt sehr früh morgens das Telefon (wenn ich mich richtig erinnere, so um 04 Uhr) und uns wird mitgeteilt, dass mein Bruder sehr schwer mit dem Motorrad verunfallt ist. Viel mehr wurde uns nicht gesagt, vermutlich noch, dass er unter anderem ganz schwere Hirnverletzungen davongetragen hat und man gerade um sein überleben (ich weiss schon, dass das gross geschrieben werden muss, aber ich finde gerade das grosse ü auf dieser Tastatur nicht…) kämpft. Meine Eltern fahren sofort los nach Bern ins Krankenhaus. Ich bleibe zuhause, um da zu sein, wenn seine Freunde bei uns ankommen. Denn die waren alle zusammen über Ostern im Wallis und haben den Unfall dort miterlebt. Sie haben sich bereits auf die Heimfahrt gemacht und wollen dann gleich zu uns kommen, denn sie haben noch die Sachen (Zelt usw) meines Bruders dabei. Und auch sie haben einen Schock. Das war ein furchtbares Erlebnis für die drei 22Jährigen.
Heute ist eigentlich der Tag, an dem sich mein Leben zum ersten Mal so richtig erschüttert hat und für immer verändern wird. Ich finde es schwer, auszuhalten meinen Bruder über Monate hinweg so zu sehen, die Ungewissheit, ob er überleben wird. Ich finde es auch sehr schwer, zu sehen wie meine Eltern leiden, welche Angst sie ausstehen um ihren Sohn.
Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt überlege ich mir noch nicht, wie es weitergehen wird oder was noch kommen wird. Das Jetzt ist zu intensiv, um schon weiter zu denken. In dieser Zeit geht es mir tatsächlich so schlecht, dass ich Suizidgedanken habe. Immer wieder. Einfach, weil ich es kaum aushalte. Aber ich bin ein resilienter, psychisch stabiler Mensch, mein Fallschirm geht auf und ich lerne, mit all dem umzugehen. Ausserdem weiss ich, dass ich das meinen Eltern nicht antun könnte. Ich kann also noch klar denken, aber der Schmerz und die Angst ist wahnsinnig gross.
Diese Ereignisse verändern meine Sicht aufs Leben und irgendwie auf alles. Ich entscheide mich noch im selben Jahr dafür, Sozialpädagogik zu studieren. Daneben beginne ich, in einer Institution für männliche Jugendliche mit einer Jugendstrafmassnahme zu arbeiten.
Mein Bruder darf zu dieser Zeit manchmal vom Krankenhaus nach Hause kommen. Er fängt manchmal an zu realisieren, was ihm passiert ist und dass es wohl nicht mehr so wie vorher werden wird. Nie wieder. Das ist sehr, sehr hart. Ich kann das sehr gut verstehen und es bricht mir das Herz, es nicht ändern zu können.
Er reagiert immer öfter sehr aggressiv mir gegenüber, ich bin offenbar das Ventil. Als er eines Tages mit einem Stuhl auf mich einschlägt, ziehe ich zuhause aus, in eine WG.
Meine Eltern leben beide noch und ich habe noch keine Bekanntschaft mit Krebs gemacht und, habe noch nie erlebt, welches Leiden und welche Angst er verursacht und ich habe auch noch nie erfahren, wie er einem geliebte Menschen wegnehmen kann. Bald werde ich diese Erfahrungen machen müssen…
Also genau jetzt, anfangs April 1995, ist meine Welt noch in Ordnung. Ich habe schon ein paar Dinge erlebt, von denen ich meinte, sie seien schlimm. Und vermutlich waren sie das auch zu dieser Zeit. Im Nachhinein sind sie es nicht mehr.
Jetzt, anfangs April 2025, kann ich sagen, dass das Jahr 1995 mein erstes richtig schlimmes Jahr war. So schlimm, dass ich die Steine vor mir neu anordnete und mir einen neuen Weg daraus baute.
Musste.
Dies würde ich in den nächsten Jahrzehnten noch ein paar Mal machen müssen.
Jedesmal schwer, jedesmal mit unfassbaren Verlusten verbunden und jedesmal führte es mich dann zu neuen Zielen, weil ich danach nie mehr die war, die ich vorher war. Und ich glaube heute, genau dies ist die sinnvollste Art, schwere Zeiten zu überstehen: zu überleben, es zuzulassen und sich zu entwickeln, egal wohin, aber Hauptsache in eine gute Richtung.
Was ist deine Geschichte zum Jahr 1995?


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