Professionalität


Ich möchte mal über etwas schreiben, worüber ich wirklich seit einer Weile ziemlich oft nachdenke.
Es geht um eine offenbar private Pflege-Firma in Deutschland, deren Geschäftsführer Videos macht mit Klienten:innen und diese in den sozialen Medien veröffentlicht, nennen wir ihn R.
Die Videos sind eigentlich ganz süss. Man sieht, wie er eine ältere Dame regelmässig besucht, sie ist seine Klientin. Die Videos sollen wohl vor allem zeigen, wie wichtig der Pflegeberuf ist und auch wie wichtig es ist, eine Beziehung aufzubauen zu den einzelnen Klienten:innen.
Das ist eigentlich eine sehr schöne Geschichte. Sie freut sich auf seine Besuche, sie lachen zusammen, reden ganz viel, er macht mit ihr Ausflüge usw. Ich glaube tatsächlich, dass das für diese Frau toll war. Ich sage „war“, weil sie unterdessen verstorben ist.
Ich habe nicht alle Videos gesehen, aber einige und einige davon fand ich persönlich zu intim. Also in einem hat er sie zB Dinge gefragt über ihr Leben mit ihrem ehemaligen Mann, auch über das Sexleben. Sie hat darüber erzählt, beide haben Sprüche geklopft und egal um welches Thema es ging, tausende Menschen haben zugeschaut…
R. sagt in ganz vielen Videos, dass sie Freunde geworden sind.

Der schöne Aspekt darin ist all das oben Beschriebene. Ich glaube, sie hatte Spass und Abwechslung und schöne letzte Monate. Sieht jedenfalls so aus.

Aber ich sehe da einfach auch soooo viele red flags und ich verstehe gar nicht, warum die andere nicht sehen. Ich schreibe nun darüber und da ist vielleicht ein Shit Storm vorprogrammiert, aber das ist mir auch egal, denn Professioalität in Betreuungs- und Pflegejobs, das ist einfach sehr wichtig.

Ich sags mal so…
Das finden jetzt alle so süss, wenn dieser Pfleger in seinem Job so locker und freundschaftlich mit dieser Oma umgeht.
Wie wäre es denn, wenn ein Betreuer in einer Institution für Jugendliche genau dasselbe machen würde mit einem Jugendlichen? Oder ein Betreuer würde manchmal (immer dasselbe) Kind mit nach Hause nehmen am Wochenende oder am Feierabend?
Eigentlich total distanzlos, über allerlei Themen sprechen, sich befreunden und Videos veröffentlichen. Oder in egal welcher Institution, wo Menschen wohnen, die betreut werden dort. Oder gepflegt.

Und was ist denn dann, wenn plötzlich ganz viele das tun und von ganz vielen nur ein einziger schlechte Absichten hat, also zB Missbrauch oder was auch immer. Das wäre für ihn dann nämlich ganz einfach.
Und genau solche Menschen zieht es leider auch in solche Institutionen oder auch in Vereine und was auch immer, denn sie suchen ja nach Möglichkeiten, um ihre Bedürfnisse, welche das auch immer sein möchten, zu befriedigen.
Missbrauch gibt es auf verschiedenen Ebenen, auch Bereicherung oder Handlungen, die zum eigenen Wohl (also der Betreuungsperson) dienen, gehören meiner Meinung nach da dazu.

Ich weiss nicht, wieviele solche Menschen es gibt.
Aber es gibt sie.
Aus diesem Grund und auch im Wissen um die oben genannte Problematik haben wir Schutzmechanismen eingebaut. Davon erzähle ich gleich noch.
Das war früher nicht so und die Rolle der Pflege-, Erziehungs- oder Betreuungsperson war eine andere. Die Methoden mit denen man arbeitete waren ebenfalls andere. Und wir wissen, dass es früher in Institutionen und nicht nur dort, viel zu viele Machtausübungen und Grenzüberschreitungen gegeben hat. Viel zu viele Opfer jeglicher Art von Gewalt.

Konzepte betr. Grenzüberschreitungen, Gewalt, Sexualität und auch Verhaltenskodexe fürs Personal sollen solche Situationen verhindern. Sie sollen betreute Personen schützen, aber auch das Personal vor unberechtigten Anschuldigugen oder halt auch ebenfalls vor Übergriffen.
Ich finde tatsächlich, dass solche Konzepte sehr wichtig sind. Die gibt es schon lange und die Situation hat sich dadurch verbessert.

Unsere Persönlichkeit ist neben Fachwissen und -können eines der wichtigsten Werkzeuge in der agogischen und auch in der pflegerischen Arbeit. Und ebenfalls, dass man in einer guten Beziehung, in einer VERTRAUTEN Beziehung ist mit den Klienten:innen. Das ist einfach wichtig und macht die Arbeit viel einfacher und um sooo vieles wirksamer.
Wir sind aber keine Freunde:innen. Wir sind Fachpersonal. Das ist nicht dasselbe und zwar unter anderem ganz genau aus den oben genannten Gründen. Und aus den selben Gründen pflegen wir privat keinen Kontakt zu den betreuen Personen, sondern unterstützen sie dabei, sich ein eigenes Umfeld aufzubauen.
Wir arbeiten dort. Es ist unser Job. Nicht unser Privatleben. Wir sind keine Freunde, auch wenn wir eine wichtige Rolle einnehmen. Wir pflegen eine professionelle Beziehung zum Klientel.

Es geht dabei um Schutz – und zwar um den Schutz von uns anvertrauten Menschen, die durch ihre Beeinträchtigung oder Situationen sozusagen von uns abhängig sind und diese Abhängigkeit darf nicht ausgenutzt werden.
Es geht aber auch um den Schutz der betreuenden Person, denn Grenzüberschreitungen können auf beiden Seiten begangen werden, nur wird sich eine Betreuungs- oder Pflegefachperson besser mitteilen und wehren können als ein:e Klientin. Aber beides ist schlimm und soll möglichst verhindert werden.

Das Szenario muss ja nicht unbedingt in eine Grenzüberschreitung oder Gewalttat ausarten. Es kann auch einfach sein, dass wenn man sich zu wenig abgegrenzt und Privates und Beruf nicht so gut unterscheiden oder voneinander trennen kann, dass man irgendwann ein Burnout erleidet oder sowas.

Das ist so das eine.
Das andere ist ja, dass wir in diesen Berufen Schweigepflicht haben und auch die Privat- und Intimsphäre der zu pflegenden und bereuenden Menschen wahren müssen. Da gehen keine Informationen irgendwohin ohne die Einwilligung (also ohne schriftliche Einwilligungserklärung auch).

Ich gehe ja schon davon aus, dass diese Pflegeorganisation, die mir Anlass zu diesen Überlegungen gegeben hat, dieses Einverständnis hatte von dieser Frau.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dennoch finde ich es fragwürdig. Wirklich.
Ich habe gesehen, dass er bei Instagram fast eine Million Follower hat und wir alle wissen, dass man zudem mit Instagram unter Umständen recht viel Geld verdienen kann. So liegt die Vermutung recht nahe, dass er wahrscheinlich recht profitiert hat von dieser Oma bzw von den Videos mit ihr. Und wenn nicht direkt finanziell, dann indirekt, weil es ja Werbung war eigentlich…

Ich hinterfrage das schon ziemlich stark.

6 Antworten zu „Professionalität”.

  1. Naja, aber sich an Menschen, die abhängig von einem sind, sozusagen zu bereichern, ihre Privatsphäre an der Öffentlichkeit zu zeigen usw, DAS ist einfach nicht professionell. Auch wenn er daneben sein Job super macht.
    Aber vielleicht haben wir in der Schweiz auch andere Richtlinien.

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  2. Wie viel L verstanden hat, das kann man nur mutmaßen ich weiß von einem Video wo sie sich sehr freut nun auf der Straße erkannt zu werden, das die Menschen sie wahrnehmen und ihr die Einkäufe tragen usw. Wie viel R verdient hat oder noch verdient ist ja unterm Strich auch nur eine Mutmaßung und was er mit dem eingenommenen Geld macht weiß auch niemand, nun erstmal zumindest die Beerdigung von L bezahlen- ergo waren die Videos schonmal nicht umsonst und L wird nicht anonym „entsorgt“ das finde ich zum Beispiel prima.

    Ich gebe dir Recht das man in jedem Beruf, nicht nur in diesem seriös und professionell sein sollte, jedoch wenn man TikTok ein wenig verfolgt gibt es immer mehr und mehr dieser Kanäle die aus Suchteinrichtungen, aus der Pflege usw filmen… Vielleicht ist es irgendwo auch einfach der Zahn der Zeit- sieht man ja an der Anzahl der Follower.

    Für mich jedoch geht aus den Videos selbst nichts hervor über seine Professionellität bzw. wie er als selbstständiger Pfleger wirklich arbeitet.. Er hat sich mit den Videos während Corona vor der Pleite gerettet- und mal ehrlich ich als Selbstständige greife auch nach jedem Strohhalm der sich mir bietet.

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  3. Davon gehe ich aus. Aber wieviel von all dem hat Oma Lotti wohl verstanden?
    Ich als Fachperson finde es wirklich sehr fragwürdig und nicht seriös, ganz abgesehen davon, dass er ja ganz bestimmt damit sehr viel Geld verdient.
    Von der tatsächlichen Arbeit in der Pflege sieht man da ja nichts oder kaum etwas, also gehts ja nicht darum, etwas vom Beruf zu zeigen.
    Ich finde es sehr wichtig, professionell und serlös zu arbeiten, besonders dann, wenn es sich dabei um Menschen handelt.
    Ich glaube tatsächlich, dass wir in der Schweiz da strengere Vorschriften haben als in Deutschland.

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  4. Alle Menschen die in den Videos mit gemacht haben, habe ihr Einverständnis gegeben, da gibt es einige Videos dazu wo die Pflegebedürftigen in den Videos sagen was mit den Videos gemacht wird und auch „erklären“ das sie das verstanden haben…. R übernimmt für L die kompletten Beerdigungskosten damit sie Würdevoll beerdigt wird und nicht irgendwo anonym landet.
    Manche Themen gehören davon bestimmt nicht ins Netz- und dennoch finde ich viele seiner Videos hilfreich.
    Wenn es nur um Reichweite ginge denke ich, hätte R zum Beispiel auch L zeigen können als sie im Krankenhaus lag, aber das ist nie geschehen…. Es tauchen ja auch immer nur bestimmte Menschen in den Videos auf, die die zugestimmt haben… Ich kann mir nicht vorstellen das R nur die 5 oder 6 Patienten hat…..

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  5. Ich teile Deine Bedenken. Diese Pflege-Firma handelt nicht seriös! Auch wenn die alte Frau viel Spaß hatte, den hätte sie ja auch, wenn sie nicht gefilmt worden wäre. 🙋‍♀️

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About Me

Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.