Nichts über uns ohne uns


Nichts über uns ohne uns – Dieser Gedanke kommt mir immer wieder in den Sinn in ganz unterschiedlichen Situationen, beruflich und auch privat. Seit immer waren wir es uns gewohnt, Verantwortung zu übernehmen für Menschen mit Beeinträchtigung und das hat auch beinhaltet, dass wir ganz viel für sie, über sie, entschieden haben. Einfach in unserem besten Wissen und Gewissen. Aber halt auch in unserem Sinn. So, wie wir dachten, sei es für sie am Besten. Ganz viel auch über sie hinweg entschieden. Sogenannte Fürsorge. Ich möchte das eigentlich gar nicht werten. Wie auch bei anderen pädagogischen und agogischen Haltungen.
Das war einfach so, eine Haltung unserer Gesellschaft. Und ich gehe davon aus, dass dies nicht gross hinterfragt wurde. Meine Generation wurde mitten da hinein geboren. Es war schon immer so und ging so weiter. Das soll keine Rechtfertigung oder so sein, sondern einfach eine Feststellung.
Ich weiss nicht, ob dahinter ein böser Gedanke steckt(e) bzw aber ganz sicher der Gedanke, dass Menschen, die anders funktionieren als die sogenannte Norm, nichts oder zumindest nicht so viel zugetraut werden kann oder will. Oder halt auch, dass man sich das gar nicht überlegt / dass man gar nie gelernt hat, sich das überhaupt zu überlegen.
Ich von meiner Perspektive aus meine, dass dies aus Fürsorge geschah / geschieht. Aber vielleicht nicht nur. Vielleicht auch, um Lösungen zu finden, die mehr für „uns“ oder einen stimmen, als sich zu überlegen, was für den betroffenen Menschen stimmen würde bzw ihn zu fragen. Sogenannte bequeme Lösungen, ne?

So wurden sie ausgegrenzt, aus dem Gesellschaftsleben weitgehend entfernt, fernab jeglicher Zivilisation sozusagen. Und so war es „früher“ ja tatsächlich. Betagtenheime, Kinderheime und auch Behindertenheime sind dazumals ja immer irgendwo sehr abgelegen gebaut worden. Oder Psychiatrien. Die standen irgendwo am Ende der Welt. Irgendwann in den letzten ein, zwei Jahrzehnten hat sich das dann zumindest ein wenig geändert. Aber die Heime gibt es immer noch und auch ganz oft die noch verbreitete Meinung, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht so wie wir HIER den Alltag bestreiten können / dürfen, weder wohnen noch arbeiten oder Schule. Nicht so, wie sie es gerne möchten.
Weil WIR den Aufwand zu gross finden.
Weil WIR es anstrengend finden.
Unangenehm.
Weil es immer so war…

Ich überlege mir ja immer mal wieder, wer von uns Kontakt oder Berührungspunkte hat zu Menschen mit Beeinträchtigungen, wenn man nicht gerade jemanden in der Familie oder im näheren Umfeld hat. Nämlich fast gar niemand. Wir sind eine Gesellschaft mit null Erfahrung mit Menschen, die anders sind als wir. Und ich muss ehrlich sagen, das finde ich schon ziemlich krass.
Wir sind eine Gesellschaft von erwachsenen Menschen, die null Erfahrung damit haben, mit Menschen mit Beeinträchtigungen zusammen zu leben (und damit meine ich nicht, zusammen leben in einer WG oder so, sondern einfach als Gesellschaft. Sie als Teil von uns, als gleichwertigen Teil zu „akzeptieren“). Dementsprechend sind wir auch eine Gesellschaft, die sich damit nicht gut oder gar nicht auskennt und einigermassen überfordert ist und Hemmungen und Berührungsängste hat. Die Menschen mit Beeinträchtigung baden dies dann aus.

Jetzt, 2025, mit viel mehr Wissen und Bewusstsein für Inklusion, hintersinne ich mich manchmal fast, wenn ich an solche Dinge denke oder solche Dinge auch heute halt noch sehe…
Heute sind wir Menschen uns viel bewusster darüber, dass auch Menschen mit Beeinträchtigungen Rechte haben. Und zwar genau dieselben wie wir auch. Menschenrechte. Dazu gibt es noch die UNO Behindertenrechtskonvention, die all diese Rechte explizit benennt und auf die manchmal besondere Situation einer Person mit Beeinträchtigung eingeht.
Und wir alle haben die Aufgabe, unserer Gesellschaft dabei behilflich zu sein, diese umzusetzen und bevor dies erfolgreich gemacht werden kann, wohl auch noch mehr Bewusstsein zu schaffen. Das ist auch nicht einfach nur Goodwill oder so, es sind tatsächlich Gesetze.

Viele Jahrzehnte lange Exklusion hat Spuren hinterlassen in unserer Gesellschaft und Inklusion braucht Entwicklung und Zeit.
Es gilt, von der vollumfänglichen Fürsorge wegzukommen und die betroffenen Menschen dabei zu unterstützen, selbstbestimmt leben zu können. Und auch Unterstützung dabei, dies überhaupt zuerst zu lernen. Das ist eine sehr spannende Aufgabe und ich wünschte mir, wir alle wären uns dessen viel mehr bewusst. Denn wie bei ganz vielen Themen interessiert es ganz viele ja gar nicht, so lange sie nicht davon betroffen sind oder sie sehen die Notwendigkeit nicht (aus dem selben Grund).

Ich glaube, auch bei ganz viel Bewusststein und auch gutem Willen ist es für uns auch ein Dazu-Lernen und ein Umdenken und dieser oben genannte Satz „Nichts über uns ohne uns“, der hilft immer wieder ganz gut dabei, nicht zu vergessen, um wen und was es eigentlich geht. Und halt eben, dass nicht WIR einfach machen, was wir jetzt für notwendig finden, sondern dass wir dies mit den betroffenen Menschen zusammen machen. Und vielleicht auch halt, dass wir aufhören zu unterscheiden und vor allem auch aufhören, zu werten.
Mir ist das wichtig.

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About Me

Mein Name ist Andrea und ich bin die Frau hinter den Worten und Gedanken in diesem Blog.
Alleinerziehende Mama eines Kindes im Autismus Spektrum, Sozialpädagogin und am Ende einfach ein Mensch auf dieser Erde wie jeder andere auch.